Mehr Hunger, weniger Hilfe: Überleben mit 300 Kalorien am Tag

Allein im Sudan hungern Schätzungen zufolge über 25 Millionen Menschen – mehr als die Hälfte der Bevölkerung.
Die Zahl der Hungernden steigt, während Regierungen weltweit ihre Unterstützung zurückfahren. Eine Bombe mit langer Zündschnur, deren Auswirkungen wir nicht kennen, warnt der Direktor des UN-Welternährungsprogramms.

Martin Frick nennt sich selbst den "Chefbettler" für die UN: Aufgabe des Direktors des United Nations World Food Programme (WFP) für Deutschland, Österreich und Liechtenstein ist es, Gelder einzutreiben – von Regierung zu Regierung zu ziehen, und auf die 318 Millionen Hungernden auf der Welt hinzuweisen. Die Zeiten dafür waren selten schlechter: Weltweit werden Budgets für humanitäre Hilfe reduziert. Die USA haben ihre staatliche Behörde für Entwicklungszusammenarbeit eingestellt, in Österreich sinkt die öffentliche Entwicklungshilfeleistung 2026 um 118,9 Millionen Euro im Vergleich zu 2024.

KURIER: Herr Frick, war es jemals schwerer, finanzielle Unterstützung einzutreiben? 

Martin Frick: Einfach war es nie. 2022 hatten wir eine Rekordfinanzierung von 14,7 Milliarden Dollar. Seitdem sinkt unser Budget, derzeit stehen wir bei unter sechs Milliarden Dollar. Gleichzeitig ist die Zahl jener, die nicht wissen, wo sie ihre nächste Mahlzeit herbekommen, gestiegen – von 135 Millionen 2019 auf 318 Millionen heute. Ich habe die Sorge, dass das eine große Bombe mit langer Zündschnur ist, und wir die Auswirkungen der Kürzungen noch gar nicht wirklich abschätzen können.

Der Deutsche Martin Frick ist Leiter des WFP-Regionalbüros für Österreich, Deutschland und Liechtenstein.

Der Deutsche Martin Frick ist Leiter des WFP-Regionalbüros für Österreich, Deutschland und Liechtenstein. 

Warum ist die Zahl der Hungerleidenden so stark gestiegen?

Verantwortlich dafür waren stets drei Ks, jetzt sind es vier: Da ist die steigende Zahl von Kriegen auf der Welt, von 46 Kriegen vor zehn Jahren auf 61 heute. Kriege sind menschengemacht, aber wir schaffen es nicht, sie zu beenden. Knapp 70 Prozent der Menschen, die Hunger leiden, leben in Krisengebieten. Dazu kommt der Klimawandel, der sich auf die Krisenregionen der Welt stärker auswirkt. Im Vorjahr erlebten wir über 370 Extremwetterereignisse – jeden Tag mehr als eines. Das dritte K sind die Kosten: Wir haben eine unglaubliche Schuldenkrise im Globalen Süden, drei Milliarden Menschen leben in Ländern, die mehr Geld für ihre Schuldentilgung ausgeben als für Investitionen in Gesundheit oder Bildung. Diese giftige Kombination aus Überschuldung, Wertverlust von lokalen Währungen und Weltmarktpreisen für Grundnahrungsmittel, die 20 Prozent höher sind, als noch vor fünf Jahren, sorgt dafür, dass sich die Menschen diese nicht mehr leisten können. Das vierte K sind die Kürzungen: Die USA haben ihre Spendensumme um 55 Prozent gekürzt, in Deutschland ist die humanitäre Hilfe um 53 Prozent gesunken.

In welchen Regionen auf der Welt ist die Lage derzeit am prekärsten? 

Die Situation im Sudan, speziell Darfur, ist besonders schlimm. Wir sorgen uns aber auch um die Region Kurdufan weiter östlich, dass wir dort demnächst dieselbe Gewalt wie in al-Faschir sehen werden, und um den Südsudan oder den Tschad, dass diese Nachbarregionen destabilisiert werden. In Afghanistan haben wir 2024 neun Millionen Menschen unterstützt, heute schaffen wir nur mehr 900.000. Haiti ist ein einziges Desaster, humanitäre Hilfe für viele Familien der letzte Strohhalm. Die Demokratische Republik Kongo ist eine chronisch unterfinanzierte Großkrise. In Gaza ist die gesamte Bevölkerung von über zwei Millionen Menschen angewiesen auf humanitäre Hilfe.

Durch die Kürzungen sind wir gezwungen, von Hungernden zu nehmen, um Verhungernde zu retten. In manchen Gegenden mussten wir Rationen auf 300 Kalorien reduzieren – das ist dramatisch. Wir müssen uns überlegen, wo wir unsere Präsenz noch aufrechterhalten können.

PALESTINIAN-ISRAEL-CONFLICT

Ein palästinensischer Junge in Trümmern im Stadtteil Zeitoun in Gaza-Stadt, 20. November 2025.

Wie ist die Lage in Gaza seit Beginn der Waffenruhe?

Vergangenen Freitag wurde der Grenzübergang in Zikim geöffnet, im Norden, durch den sich Gaza-Stadt versorgen lässt. So konnten wir erstmals unser Tagessoll von 2000 Tonnen zu erreichen. Seit dem Waffenstillstand am 10. Oktober sind über 30.000 Tonnen Nahrungsmittel in den Gazastreifen gelangt. Wir bringen Brotpakete, Fladenbrot zu Bündeln à zwei Kilo, beliefern Bäckereien mit Mehl, Brennstoff und Hefe, liefern hoch angereicherte Spezialnahrung mit Proteinen und Nährstoffen an schwangere Mütter, stillende Frauen und Kleinkinder und versorgen Menschen in Suppenküchen. Unsere Lastwagen fahren zur Grenze, dann werden die Nahrungsmittel in kleine Lastwagen umgepackt und verteilt. Alles, was in den Gazastreifen kommt, wird von israelischen Behörden überprüft.

Die UN wollten einst den Hunger bis 2030 abschaffen. Geht sich das aus?

Es müsste keinen Hunger geben. Wir produzieren auf der Welt genügend Lebensmittel, um 9,5 Milliarden Menschen ernähren zu können. Aber wir haben eine große Schieflage bei der Verteilung.

Was muss also passieren?

Unser globales Ernährungssystem muss nachhaltiger und resilienter werden. Wir sind zu abhängig geworden von wenigen Sorten: Vier Getreidesorten sind verantwortlich für 60 Prozent der global produzierten Kalorien. Diese Sorten werden von wenigen Ländern angebaut. Wir haben uns lange auf den komparativen Vorteil eines Landes konzentriert, afrikanische Länder produzieren Kakao, Kaffee, Baumwolle und Schnittblumen und können im Gegenzug Grundnahrungsmittel billig am Weltmarkt einkaufen. Spätestens während Covid haben wir gemerkt, wie verwundbar diese internationalen Warenströme sind.

Eine Möglichkeit ist, sich wieder auf lokale oder indigene Sorten zu besinnen, in Afrika zum Beispiel auf Maniok und Hirse, die besser für das lokale Klima geeignet sind. Wir müssen in kleinbäuerliche Landwirtschaft investieren und die Importabhängigkeit der Länder reduzieren. Im Sahel haben wir über 300.000 Hektar Land wiederhergestellt, der Wüste abgetrotzt, und mit kleinsten Regenwassersammelbecken wiederaufgeforstet. Angesichts der Zahl der Menschen, die humanitäre Hilfe brauchen, wird es nie genügend Geld geben. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen aus der humanitären Hilfe hinauskommen. Syrien ist zum Beispiel gerade in einer sehr verwundbaren Phase. Das Land braucht Unterstützung, damit Menschen, die nach Europa geflogen sind, überhaupt etwas haben, zu dem sie zurückkehren können. Doch auch hier schlagen die Kürzungen durch: Statt 5,5 Millionen Menschen können wir jetzt nur noch 1,5 Millionen unterstützen.

Wie erfolgreich waren Sie in Österreich bisher? 

Gegen Österreich wird ein EU-Defizitverfahren geführt, die wirtschaftliche Lage ist schlecht. Dafür habe ich größtes Verständnis und bin dankbar für die bisherige Unterstützung. Aber es ist eben in Zeiten, in denen Multilateralismus so angegriffen wird, enorm wichtig, diesen zu verteidigen. Meine Bitte an Österreich ist, innerhalb der EU und den Vereinten Nationen, das Grundverständnis, dass humanitäre Hilfe auch europäische Außen- und Sicherheitspolitik ist, aufrechtzuerhalten.

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