Gaza-Tragödie: "Man muss den Jungen eine Perspektive bieten"

The Wider Image: The Gaza twins whose whole life has been war
Natalie Boucly, Vize-Chefin des Palästinenser-Hilfswerks UNRWA, über die Arbeit der Organisation, die Kritik Israels an der UN-Agentur und über die laufenden Gespräche über eine Waffenruhe in Ägypten.

Die italienisch-französische Doppelstaatsbürgerin Natalie Boucly ist Vize-Chefin der UN-Organisation, die sich um Palästinenserflüchtlinge kümmert und gegen die Israel schwerste Vorwürfe erhebt. Während ihres Wien-Aufenthaltes gab sie dem KURIER folgendes Interview.

UNRWA-Vize-Chefin Natalie Boucly

KURIER: In Ägypten wird gerade über den 20-Punkte-Plan von US-Präsident Donald Trump verhandelt. Welche Chance geben Sie den Gesprächen?

Natalie Boucly: Wir kommentieren keine Politik, aber wir wünschen jedem Waffenstillstand Erfolg – genau das fordern wir seit Beginn: eine Feuerpause, ungehinderten Zugang für Hilfe und eine klare UN-Rolle. Der US-Plan umfasst 20 Punkte und ist breit angelegt, aber der Teufel steckt im Detail.

Und was ist mit der UNRWA? Ihr kommt im Trump-Plan explizit keine Rolle zu.

Der Text bleibt vage, erwähnt werden die „UNO und ihre Agenturen“. Klar ist aber, dass die UNO erprobte Methoden der Hilfeleistungen hat. Während des Waffenstillstandes haben wir das in Gaza bewiesen. Und jetzt stehen 6.000 Lkw mit Gütern bereit, man müsste sie nur in den Küstenstreifen lassen.

Was kann die UNRWA derzeit konkret in Gaza leisten?

Viel. Unsere 1.500 medizinischen Kräfte betreiben sechs Gesundheitszentren und mobile Teams mit rund 10.000 Konsultationen pro Tag, obwohl es massiv an Medikamenten fehlt. Tausende Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sichern in Hunderten Notunterkünften Basiskompetenzen und psychosoziale Unterstützung für Kinder. Das rettet ihre Seelen und gibt ihnen Zukunftshoffnung. Zudem managen wir Unterkünfte, reinigen Brunnen, entsorgen Müll. Durch die Zerstörungen stapeln sich pro Quadratmeter 387 Kilogramm Trümmer.

Israeli troops in Gaza City

Das Ausmaß an Zerstörung ist gewaltig

Israel wirft der UNRWA vor, dass zwölf Prozent der 12.000 Mitarbeiter im Gazastreifen Hamas-Mitglieder oder wenigsten -Sympathisanten seien. Einige sollen sogar beim Angriff am 7. Oktober 2023 beteiligt gewesen sei. Stimmt das?

Dafür wurden keine Belege vorgelegt. Dennoch haben wir neun Mitarbeiter entlassen. Ich will gewiss keine Hamas-Leute in unseren Reihen. Und klar ist auch: Ich verurteile den Angriff vom 7. Oktober, es war schrecklich. Jede Person, die ein Kriegsverbrechen begangen hat, muss vor Gericht.

Wie stellen Sie sicher, dass Sie keine Hamas-Akteure oder -Sympathisanten aufnehmen?

Nach den Vorwürfen haben wir noch robustere Verfahren entwickelt. Etwa vertiefte Screening-Fragen, stichprobenartige Prüfung der Social-Media-Aktivitäten der Bewerber, mehr Inspektionen, Checks durch externe Firmen und anderes. Zudem übermitteln wie schon bisher regelmäßige Namenslisten aller Mitarbeiter an Israel, ob verdächtige Personen darunter sind. Zuletzt vierteljährlich.

Ein weiterer Vorwurf lautet, dass an den von der UNRWA betriebenen Schulen Antisemitismus verbreitet würde.

Das widerspricht komplett unseren Werten. Bei Verstößen leiten wir sofort Disziplinarmaßnahmen ein. Wir prüfen auch jährlich die Lehrbücher, die uns von den Gastländern zur Verfügung gestellt werden, ob darin zu Gewalt aufgerufen wird.

Sie haben vorhin die massiven Zerstörungen im Gazastreifen angesprochen. Kann das Vorgehen Israels dort als Völkermord bezeichnet werden?

Diese Feststellung muss der Internationale Gerichtshof klären. Das wird Zeit brauchen und wohl erst 2026 oder 2027 passieren. Die unabhängige UN-Kommission unter Navi Pillay hat diesen Begriff jedenfalls verwendet. Was immer auch geschieht – Kriegsverbrechen, Genozid oder anderes – alle Täter auf allen Seiten müssen zur Rechenschaft gezogen werden.

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Die israelische Armee ist in Gaza weiterhin präsent und im Einsatz

UNRWA-Chef Philippe Lazzarini ist in Israel persona non grata und darf nicht mehr einreisen…

…das gilt für mich und alle internationalen UNRWA-Mitarbeiter ebenso. Wir erhalten keine Visa mehr. Und es ist israelischen Stellen sogar verboten, mit uns in irgendeinen Kontakt zu treten. Das verunmöglicht die operative Koordination.

Die Fronten in der Region scheinen derzeit total verhärtet zu sein, meinen Sie, dass in den kommenden 20 Jahren eine Lösung in dem Uralt-Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis möglich ist?

Hoffnung habe ich, Prognose aber keine. Wenn der politische Wille da ist, kann es gelingen. Bis dahin brauchen wir eine Mandatsverlängerung (für die UNRWA) sowie finanzielle und politische Unterstützung. Denn es geht auch darum, die Traumata zu bewältigen – zumal die der Kinder. Es gibt 20.000 Waisen. Wenn man den Jungen keine Perspektive bietet, kann man heute jede Hamaszelle ausschalten, doch morgen wird alles noch viel schlimmer.

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