Hoffnung nach Erdbeben zerstört: "Nach Syrien dürfen nur Tote einreisen“
Abdullah A. hat die Tage heruntergezählt. Die Tage bis zur Wiedervereinigung mit seiner Frau und den drei Kindern. Am 6. Februar hörte Abdullah A. zu zählen auf. Stattdessen setzte er sich in den nächsten Flieger Richtung Türkei – in der Hoffnung, seine Familie lebend unter den Trümmern zu finden. Das schwere Erdbeben hatte das Hochhaus in Kırıkhan (Provinz Hatay, Anm.), in dem die Familie seit ihrer Flucht aus Syrien wohnte, niedergerissen, erfuhr er.
Abdullahs Geschichte hat kein Happy End. Der 31-jährige Syrer, der in Wien vor eineinhalb Jahren einen positiven Asylbescheid erhalten hatte und das grüne Licht auf Familienzusammenführung noch im März erwartete, fand seine Familie zwar.
Aber: "Er buddelte mit bloßen Händen im Schutt und stieß auf seine Frau und die beiden Töchter. Sie waren alle tot“, schildert Abdullahs Onkel Wahib A. die Familientragödie seines Neffen. Das Erdbeben überlebte nur das älteste der drei Kinder, der fünfjährige Bub. Abdullah fand ihn trotz des entstandenen Chaos in der Region in einem Krankenhaus in Adana. Die Freude über das Wiedersehen währte nicht lange. Eine halbe Stunde nach der Ankunft erlag der Bub seinen Verletzungen.
Trauer? Verzweiflung? Wut? Was geht vor in einem Mann, dessen komplette Familie ausgelöscht wurde? „Wir reden mit ihm jeden Tag. Er glaubt zwar an Gott und Gottes Wille, kann aber trotzdem nicht nachvollziehen, warum ihm dieses Leid zugefügt wurde“, erzählt der ebenfalls in Wien lebende Wahib. Gelitten habe der Sohn seines Bruders zuletzt häufig, erklärt er. „Noch in der Erdbebennacht sendete er um 23 Uhr eine eMail an den für seinen Fall zuständigen Referenten in der Einwanderungsbehörde. Er fragte abermals, warum sie mehr als ein Jahr nach dem Antrag immer noch auf das Okay für die Familienzusammenführung warten müssen. Fünf Stunden später machte das Erdbeben alles zunichte.“
Keine Einreise nach Syrien
Zerstört wurden auch Abdullahs Hoffnungen, seine Liebsten auf ihrer letzten Reise begleiten zu können. Die vier Leichname wurden auf seinen Wunsch hin in einem syrischen Dorf nahe der Grenze zur Türkei beigesetzt, Abdullah durfte allerdings nicht dabei sein. Die Einreise nach Syrien wurde ihm aufgrund seines Asylstatus in Österreich verweigert. „Nach Syrien dürfen offenbar nur Tote einreisen“, stellt Wahib mit stoischer Ruhe fest. Eine Ruhe, die nur jemand haben kann, der Leid gewohnt ist. Jemand wie Wahib.
In einem Syrien, das noch nicht vom Krieg geprägt war, führte er ein gutes Leben. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Pharmaziestudiums in der Ukraine kehrte Wahib heim und eröffnete in seiner Heimatstadt Hama eine Apotheke. In den 2010er-Jahren wendete sich das Blatt. Für Gegner des Assad-Regimes wurde es ungemütlich.
„Sie haben uns alle nach Nordsyrien vertrieben“, erinnert sich der ehemalige Apothekeninhaber, wie seine einst wohlhabende Familie alles verlor und in einer Notunterkunft in der Idlib-Region landete. In dieser letzten Bastion der Aufständischen des syrischen Kriegs begannen viele weitere Leidensgenossen ein aus der Not geborenes neues Leben.
Die Not trieb Wahib zur Flucht aus dem vom Krieg verwüsteten Land. 2014 landete er nach einer langen Reise in Österreich, später folgten ihm seine Frau und die vier Kinder. „In die Heimat meiner Frau konnten wir auch nicht flüchten, denn dort brach auch ein Krieg aus“, beklagt Wahib sein Schicksal. Heute arbeitet er als Pflegeassistent im Blinden- und Sehbehindertenpflegeheim in Wien-Penzing.
Sein Studium ließ er zwar anerkennen, um aber in Österreich als Pharmazeut arbeiten zu dürfen, müsste er ein Jahr als Aspirant in einer Apotheke verbringen. „Aber wie soll ich mir das mit vier Kindern leisten?“, fragt sich Wahib. Seine letzten Ersparnisse schickte er nun seiner verwitweten Mutter – der Vater verstarb im nordsyrischen Exil –, die mit dem Bruder und dessen Familie in einem brüchigen Haus in Idlib lebt. „Wenn ich meine Mutter frage, ob ihnen schon vor Ort geholfen wurde, ob sie etwas bekommen hätten, dann sagt sie: ‚Gar nichts‘“, sagt Wahib über die Abhängigkeit der Erdbebenopfer von ihren Verwandten aus dem Westen.
Das von ihrem Sohn erhaltene Geld gab Wahibs Mutter für ein Zelt aus. „Sie trauen sich nicht mehr in das marode Haus zurück. In dem Zelt fühlen sie sich sicherer“, sagt der Syrer. Die Angst vor dem nächsten Erdbeben ist zu groß. Weitere Verluste in der Familie wären nicht zu ertragen. „Abgesehen von der Familie meines Neffen sind 14 Personen aus der weiten Verwandtschaft beim Erdbeben ums Leben gekommen“, stellt er mit Ernüchterung fest.
Trost findet Wahib in der Arbeit, sagt er. Seine Kollegen hätten große Hilfsbereitschaft gezeigt und ihm eine beträchtliche Spendensumme überreicht.
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