„Goodbye!"
Kind 4.672
Hella Pick war Kind 4.762, eines von mehr als 10.000 jüdischen Kindern aus Deutschland und Österreich, die während des Zweiten Weltkriegs mit dem Kindertransport 1938 in England vorübergehend ein neues Zuhause fanden. Am 10. Dezember 1938 verließ der erste und mit 500 Kindern größte Kindertransport Wien. Die Fahrt kostete 50 Pfund, was heute umgerechnet etwa 3.000 Euro entsprechen würde.
Anlässlich des 85. Jahrestags des Kindertransports wird Hella Pick heute, Donnerstag, auf Initiative von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) im Rahmen eines Zeitzeug:innengesprächs im Parlament von ihren Erfahrungen erzählen. Der KURIER hat die Doyenne des Journalismus in ihrer Londoner Wohnung getroffen. Handsignierte Fotografien und Drucke zieren den Gang ins Wohnzimmer, in dem die Bücherregale bis an die Decke reichen und die Kommoden, die Regale, der Schreibtisch aus Holz etwas Österreichisches haben.
Verdrängte Erinnerungen
„Manche Menschen", sagt die 94-Jährige mit ihrer starken, tiefen Stimme und nimmt im Ohrensessel Platz," haben ein absolut fotografisches Gedächtnis für das, was ihnen damals widerfahren ist. Ich nicht. Es ist komisch, es gibt so viele Dinge, die ich vergessen habe.“ Doch ein paar Details sind ihr klar ins Gedächtnis eingebrannt. „Ich weiß, dass es mir gelungen ist, noch am selben Tag eine Postkarte an meine Mutter zu schreiben, die noch in Wien war.“ Hella schrieb, dass sie gut angekommen war und die Leute, die Gastgeber, sehr nett schienen. „Und ich glaube, ich habe sie dazu gedrängt, so schnell wie möglich ein Visum zu bekommen, um nach England zu kommen.“
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Doch die Zeit davor in Wien ist verschwommen. Nach dem Anschluss war sie mit ihrer Mutter von Döblin zu einer Familie in die Innenstadt gezogen. Einmal hatte die Gestapo angeklopft. Hatte sie Angst? „Es muss Angst gewesen sein. Aber ehrlich gesagt, erinnere ich mich nicht. Ich erinnere mich nicht einmal daran, ob ich in der Innenstadt in die Schule gegangen bin. Es ist schrecklich. Aber natürlich war da der Stress mit jemandem eine Wohnung teilen zu müssen; ich muss mir sehr bewusst gewesen sein, was passiert ist.“
Dem Grauen entronnen
Aber sie hatte Glück. Dieser Satz fällt im Gespräch immer wieder. Glück, die Grauen des Krieges nicht mitzubekommen. Glück, dass ihre Mutter Johanna bald nachkommen konnte. Glück, dass ihre Mutter den Job wechseln und sie sich beide im Lake District niederlassen konnten.
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Ihre Großmutter Olga Spitz, die zuvor nach Prag gereist war, weil sie sich dort in Sicherheit wägte, überlebte den Holocaust nicht. Sie wurde 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert und von dort in das polnische „Transit-Ghetto“ Izbica transferiert. Ihren Vater, der sich von ihrer Mutter getrennt hatte, als sie 3 Jahre alt war, würde sie ebenfalls nie wieder sehen.
Hella Picks Blick war nach vorne. Als sie mit 15 Jahren einen Sekretärinnenkurs besuchen soll, wusste Hella ganz genau, dass sie dies nicht tun wollte. Sie wollte an die Universität. Und ihre Schuldirektorin war so erpicht, ihr das zu ermöglichen, dass sie anbot, die Kosten zu übernehmen.
Als Hella Pick ein paar Jahre später um einen Studienplatz bemüht war, konnte ihr der Vater der Familie helfen, bei der sie mit ihrer Mutter am Lake District untergekommen war. Er war Professor an der renommierten London School of Economics, verhalf ihr zu einem Vorstellungsgespräch. „Und zu meinem Erstaunen nahmen sie mich an.“
Hilfe von Hugo Portisch
Man muss dranbleiben, das war auch ihre Devise, als der ersehnte Job bei der UNO nichts wurde und sie sich für den Journalismus entschied. „Natürlich gibt es Situationen, in denen es ziemlich klar ist, dass die Leute dich nicht wollen, aber du musst hartnäckig sein und bleiben.“
Jahrzehnte später brachte sie das Angebot der Biographie über Simon Wiesenthal erstmals für längere Phasen nach Wien. Bei der Buch-Recherche war ihr übrigens auch der frühere KURIER-Herausgeber Hugo Portisch behilflich war: „Er war einer meiner sehr, sehr guten Freunde.“
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In dieser Zeit näherte sie sich der Stadt, in der sie ihre ersten Jahre verbracht hatte, wieder an. Denn das Interesse an Wien sei nie verschwunden. Das erste Mal war sie die Stadt bereits vier Jahre nach Kriegsende besucht, hatte die Wunden der Stadt auf sich Wirken lassen.
Als Bruno Kreisky ihr in den 1960ern persönlich die österreichische Staatsbürgerschaft angeboten hatte, erklärte sie zunächst, dass sie diese nicht nötig habe. „Aber jetzt bin ich natürlich sehr froh, dass ich die Staatsbürgerschaft habe." Sie lächelt.
Und seit ein paar Jahren fühlt sie sich mit dem österreichischen Pass noch wohler. "Der Brexit ist eine Negation all der Dinge, an die ich als Europäerin glaube.“ Er habe zu einer Art Entfremdung mit England geführt. „Wer weiß, wenn ich vielleicht zwanzig, dreißig Jahre jünger wäre, könnte ich mir eventuell vorstellen, nach Österreich zu ziehen.“
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