Migrations-Experte: "Neun von zehn Afrikanern kommen legal nach Europa"
Jetzt ist er einmal auf dem Papier unter Dach und Fach: Der neue Asyl- und Migrationspakt ist am Dienstag auch von den EU-Finanzministern abgesegnet worden.
Wird er Europas Umgang mit Migration und Asyl grundlegend ändern, die Probleme langfristig lösen? "Eine Illusion" meint der holländische Experte Hein de Haas, der seit drei Jahrzehnten zu Migration forscht. Sein neues Buch: "Migration: 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt", konfrontiert die Strategien der Politik vom "Dichtmachen der Grenzen" bis zur Migration als Antwort auf fehlende Kinder und Nachwuchs mit der Realität in Europa und der westlichen Welt. Der KURIER sprach mit ihm.
KURIER: Das Kernstück des neuen EU-Migrationspaktes sind schnellere und strengere Kontrollen an den Außengrenzen. Ist das eine zielführende Strategie gegen die Migrationskrise?
Hein de Haas: Es gibt eine Migrationskrise, aber die ist weitgehend selbstverschuldet, weil wir die Migration in Wahrheit überhaupt nicht regulieren. Wenn wir jetzt mit Verschärfung der Kontrolle an der Grenze arbeiten, dann setzen wir weiterhin auf die Politik, die seit Jahrzehnten nicht funktioniert. Man kann Europas Grenzen nicht abdichten, das kann kurzfristig an einer Stelle wirken, aber es werden neue Wege gefunden werden, weil im Westen der Markt für diese Menschen da ist.
Wie entsteht dieser Markt und was ist der Motor dafür?
Wir können keine offene, liberalisierte Wirtschaft mit starkem Wachstum betreiben, aus der sich der Staat immer weiter als Regulator zurückzieht, und dazu eine stark alternde Bevölkerung und dann meinen, dass wir ohne Zuwanderung von Arbeitskräften auskommen – und da geht es nicht nur um die gut ausgebildeten Fachkräfte, die die Politik überall haben will, sondern um die Hilfskräfte, die uns überall fehlen. Wir leben also nach dem Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. Das funktioniert nicht. Ich sage damit nicht, dass diese Art von Wirtschaft fantastisch ist und Migration unbedingt zu begrüßen, aber solange wir diese auf Wachstum getrimmte Wirtschaft mit ihrem liberalisierten Arbeitsmarkt haben, werden wir Zuwanderer anziehen.
Wird also Migration von Politik und Medien verzerrt dargestellt?
Ich habe Migration in den Westen über längere Zeiträume betrachte: Diese Migration folgt weitgehend der wirtschaftlichen Entwicklung in den Zielländern. Wenn also eine Wirtschaft gut läuft, wächst der Bedarf an Arbeitskräften, dieser Bedarf - vor allem an ungelernten Kräften - wird durch Migranten gedeckt. Wenn ich also unsere Form einer liberalen Marktwirtschaft will, dann ist Migration ein Teil davon. Migration ist in der Regel keine verzweifelte Flucht, sondern eine gezielte Investition in eine bessere Zukunft. Es handelt sich um eine bewusste Entscheidung und keinen Akt der Verzweiflung.
Die Politik steckt sich das Ziel, das nur jene Menschen kommen, die wir brauchen
Dafür müssen die Staaten Migration besser organisieren, legale Kanäle für Zuwanderung schaffen, die wir wirklich kontrollieren, anstatt zu versuchen, unsere Grenzen abzudichten, während zugleich die Menschen, die legal ins Land gekommen sind, einfach ihre Visa überziehen, bleiben und den Arbeitsmarkt füllen. Wenn Staaten die Grenzen abdichten, verhindern sie auch die freiwillige Rückkehr von Menschen in ihre Heimat, einfach weil die wissen, dass sie nie wieder nach Europa können, um hier zu arbeiten. Wenn wir also das Geschäft der Schmuggler verhindern wollen, müssen wir legale Kanäle für Zuwanderung schaffen, nicht nur für Ärzte und Techniker, sondern für die Arbeitskräfte, die diese Wirtschaft verlangt.
Der Schlüssel zur Lösung, so wird oft behauptet, liegt darin, das Geschäft der Schlepper zu zerstören. Die seien der Motor der illegalen Migration
Das größte Missverständnis ist, dass Menschenschmuggel die Ursache der Migration ist. Man soll die Schmuggler nicht verharmlosen, aber grundsätzlich bieten sie eine Dienstleistung für Menschen an, die Grenzen überwinden wollen. Je mehr wir versuchen, diesen Schmuggel zu unterbinden, desto teurer werden die Preise für den Transport und desto mehr wächst der Markt dafür, einfach weil der ökonomische Bedarf da ist. Die Medien präsentieren das fälschlicherweise oft so, als ob die Schlepper die Menschen in die Boote zwingen würden. Natürlich ist das ein illegales, kriminelles, unmenschliches Geschäft, aber es ist ein Geschäft mit Angebot und Nachfrage.
Wie groß ist der Faktor illegale Migration eigentlich?
Was wir hartnäckig ignorieren, ist die Tatsache, dass der überwiegende Teil der Zuwanderung legale Zuwanderung ist, in den meisten europäischen Ländern 80 bis 90 Prozent. Alle Statistiken, mit denen ich als Migrationsforscher arbeite, zeigen, dass neun von zehn Afrikanern legal nach Europa kommen. Aber was uns die Medien zeigen, sind nur Flüchtlingsboote, Tote in der Sahara, Grenzkontrollen. Zwischen 100.000 und 200.000 Menschen kommen jährlich illegal über das Mittelmeer. Die legale Einreise nach Europa beträgt durchschnittlich 2,5 Millionen. Die ganze Debatte konzentriert sich also auf die Frage von Asyl und missachtet dabei, dass die große Mehrheit der Migranten keine Asylwerber sind.
Befürworter von Migration sehen sie als Lösung für unsere alternden kinderarmen Gesellschaften
Diese Idee, dass wir damit unseren Mangel an Kindern und das Altern der Gesellschaft ausgleichen können, ist ebenfalls eine völlige Illusion. Um diese Entwicklung in Europa auszugleichen, würden wir das Fünf- bis Zehnfache an Zuwanderern brauchen, das ist unmöglich und politisch, aber auch gesellschaftlich nicht akzeptabel.
Asylverfahren an der EU-Außengrenze
Asylverfahren sollen grundsätzlich an den Außengrenzen der EU abgewickelt werden. Dazu werden Asylzentren in Grenznähe gebaut, in denen die Asylwerber für die Dauer des Verfahrens festgehalten werden können.
Schnellverfahren für Asylwerber
Migranten mit geringen Aussichten auf Asyl, etwa weil sie aus einem Land kommen, in dem kein Krieg herrscht, oder sie nicht verfolgt werden, werden einem Schnellverfahren unterzogen. Die erste Beurteilung soll innerhalb weniger Tage erfolgen, der endgültige Abschluss des Verfahrens innerhalb von drei Monaten. Die Asylwerber werden dabei als nicht in die EU eingereist betrachtet.
EU-weite Datenvernetzung
Ist ein Asylwerber einmal an der Grenze erfasst, sollen seine Daten in allen EU-Ländern zeitgleich auf Abruf zur Verfügung stehen, so sollen mehrfache Asylanträge verhindert werden.
Abschiebung in Nachbarländer
Die EU-Staaten arbeiten an engen Kooperationen mit benachbarten Ländern, über die die Mehrzahl der Migranten kommt: Albanien, Tunesien oder Ägypten. Diese Länder sollen nicht nur mit Hilfe von EU-Geldern die Migrationsrouten besser kontrollieren, sondern auch die abgelehnten Asylwerber zurücknehmen, wenn sie zuvor durchgereist sind.
Gerechtere Verteilung der Asylwerber
Grundsätzlich sollen Asylverfahren in Zukunft immer in den Staaten mit EU-Außengrenzen abgewickelt werden, diese sollen also die Menschen nicht einfach weiterschicken. Die anderen EU-Länder sind aber verpflichtet, diese zu unterstützen. Dazu können sie Asylwerber übernehmen, allerdings stattdessen auch Geld, oder Personal, etwa Grenzpolizisten schicken. Die Länder an der Außengrenze können allerdings bei einer zu großen Zahl an Asylwerbern den Krisenmodus ausrufen. Dann werden die Verfahren beschleunigt und die Übernahme von Menschen in anderen Ländern verpflichtend.
Was also raten Sie Politikern als Lösungsansatz für das Problem Migration?
Wenn Politiker mich heute fragen, wie sie die Migration reduzieren können, sage ich ihnen: Ihr müsst euren Arbeitsmarkt stärker regulieren und einen Teil der Liberalisierung zurücknehmen, aber dafür gibt es natürlich keinen politischen Willen. Denn weniger Wachstum und eine ärmere Gesellschaft, dafür will niemand eintreten.
Die Politik ignoriert also die Realität in den eigenen Ländern?
In allen europäischen Ländern werden Migranten auch illegal beschäftigt und in der Realität wird das toleriert. Die Politik weigert sich nur, das anzuerkennen. Die Menschen in den Herkunftsländern wissen Bescheid über den Bedarf an Arbeitskräften in Europa, das ist ihre Motivation zu kommen. Als es etwa am Ende der Nullerjahre in Spanien wegen der Krise keine Jobs in der Landwirtschaft gab, hörten die Marokkaner auf zu kommen.
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