"Heil Hitler"-Rufe bei virtuellem Holocaust-Gedenken
Genau um zehn Uhr Donnerstagfrüh stand ganz Israel zwei Minuten still. Solang heulten die Sirenen, so lang rührten Fußgänger und Autos sich nicht von der Stelle. Wie jedes Jahr am „Tag der Erinnerung an die Schoa und das Heldentum“. Auch in diesem Jahr saßen die Teilnehmer an der Gedenkfeier in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem mit Mundmasken und in aufgelockerten Sitzreihen. Von Jahr zu Jahr nehmen weniger Überlebende der Schoa an dieser Zeremonie teil. 17.000 verstarben allein in Israel im letzten Jahr. 900 davon an und mit Corona.
„Sie überstanden Ghettos und Todeslager“, so Staatspräsident Reuven Rivlin, „doch ihren letzten Lebenskampf führten sie verschreckt und vereinsamt hinter Schutzmasken, sich nach Kontakt sehnend, doch getrennt von ihren Familien.“
Premier Benjamin Netanjahus Rede an diesem Abend weckte scharfe Kritik von links und rechts. Zu eigenpolitisch, zu selbstbezogen. „Als nach drei Minuten Rede zum elften Mal das Wort Impfung fiel, hörte ich auf zu zählen“, twitterte ein Redakteur der Wirtschaftszeitung Globes. Alon Pinkas, Israels Ex-Konsul in New York meinte: „Für Netanjahu dreht sich sogar am Holocaust Gedenktag alles nur um sich selbst.“ Dass Netanjahu den Iran erwähnte, ein Staat der Israels Vernichtung ohne Schnörkel offen ankündigt, nahmen viele noch als politisch, aber mit Holocaust- Zusammenhang hin. Doch warum dieser warnende Ton in Richtung US-Präsident Joe Biden?
Die wohl härteste Kritik kam von Bella Freund, die Netanjahu in seiner Rede namentlich erwähnte. Sie fürchtete sich vor ihrer Impfung. Weckte sie doch Ängste und Erinnerungen aus ihrer Kindheit in einer strengfrommen Familie Überlebender. Netanjahu erzählte, wie der arabische Sanitäter Fadi sie beruhigte und dann impfte. Bella Freund nach der Rede: „Geschickt, wie unser Premier das auffädelte, ohne meine Tat vor 30 Jahren zu erwähnen.“ Damals warf sich Freund schützend auf einen Terror-Attentäter, an dem sich ein Lynch-Mob rächen wollte. Er hatte zuvor auf zwei Kinder mit dem Messer eingestochen. „Das wird von seinen Anhängern eben nicht so geschätzt.“
Die Schoah wirkt bis Heute nach. Sie ist nicht Vergangenheit, Auch viele Israelis tun sich schwer damit. Direkten Antisemitismus haben die meisten individuell oft nicht erleben müssen. Doch ausgerechnet im Schatten der Corona-Pandemie, dringt er auch in Israel ein. In einer Zeit der Absperrung nach Außen, sickert er digital und online durch.
Viele der sonst in Schulen und auf öffentlichen Plätzen üblichen Gedenkabende fanden als Zoom-Runden statt. „Erinnerungen im Wohnzimmer“ hatten französische Einwanderer ihren Zoom-Abend genannt. „Gerade hatte eine Überlebende ihren Vortrag begonnen, da hörten wir plötzlich Heil-Hitler-Rufe,“ berichtet Gavriel Even-Zur. Der Student zog vor einigen Jahren nach Israel. Seine Zoom-Runde wurde offensichtlich von französischsprachigen Hackern unterbrochen.
Auch wenn das Netz neue Möglichkeiten bietet, die Motive sind uralt. Neu ist nicht einmal die Verschwörungstheorie, Juden hätten das Corona-Virus verbreitet. Im Mittelalter kannte keiner Viren, dafür aber die Pest und Brunnenvergifter.
Auch die deutsche Botschaft in Israel musste so erfahren, wie leicht Zoom-Runden zu hacken sind. Ihr Zoom-Abend nannte sich Comfort. „Plötzlich erschienen irgendwelche Bilder von Nazis und Neonazis auf dem Bildschirm, sogar pädophile Bilder waren darunter“, erzählt Zvi Herschel entrüstet. „Was soll das? Als ob so was uns schrecken könnte.“ Die Nähe zwischen Neonazis und Pädophilen im Netz ist dabei die Folge verdeckten Vorgehens beider Gruppen.
Wie nahe Kindesmissbrauch und Kindsmord sich stehen, lernte Vera Kriegel schon als Dreijährige, als sie bei einer Selektion vor dem Todesengel von Auschwitz stand. Dr, Mengele stellte sie als Zwillingskind auf die Seite derer, die nicht sofort ins Gas geschickt wurden. Für seine „genetischen Versuche“. Davon berichtete Vera Kriegel in einer Zoom-Sitzung vor arabischen Studenten aus den Golf-Emiraten. Dort waren Berichte direkt aus dem Mund von Holocaust-Überlebenden bislang eher selten.
In wenigen Jahren wird keiner mehr als lebender Zeuge aussagen können. Doch schon jetzt nimmt der Antisemitismus in aller Welt wieder zu. Juden haben wieder Angst. Auch im demokratischen und aufgeklärten Westen. Judenfeindschaft äußert sich dabei auch wieder verstärkt in direkten und blutigen Angriffen. Nachdem er zumindest einige Zeit ohne physische Gewalt auskam. Schien es. „Auch der Antisemitismus kommt in Wellen“, beobachtet der Journalist und Historiker Schmuel Rosner. „Er kehrt zurück in eine neue und veränderte Welt mit veränderten Juden. Der Antisemitismus passt sich dieser Welt und diesen Juden an. Wir – diese anderen Juden – werden gezwungen sein, uns dieser Welt anzupassen.“
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