Alltag im Irak: "Der IS sitzt noch in den Köpfen"
„Wenn die Frauen in die Klinik kommen, fragt man nicht, woher sie sind oder welche Einstellung sie haben.“ Julia Falkner, 30, blonde Haare, sitzt in Wien vor ihrem Kaffee. Im Kopf ist sie aber ganz woanders. Ende Oktober ist die Tirolerin, gelernte Hebamme, aus Mossul zurückgekehrt; dort hat sie für Ärzte ohne Grenzen eine Geburtsklinik aufgebaut.
Mossul, das war einst die Hauptstadt des Terrors. Die 600.000-Einwohner-Stadt galt als Zentrale der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS), die sich von 2014 an in großen Gebieten im Irak und Syrien ausgebreitet hatte. 2017 wurde sie – in der größten Schlacht seit dem Zweiten Weltkrieg – befreit, und zwar von der internationalen Anti-IS-Allianz.
Und jetzt?
Jetzt klafft dort ein Vakuum. Die von den USA angeführte Anti-IS-Koalition hatte nach dem iranischen Angriff auf US-Ziele ihr Mandat zwischenzeitlich auf Eis gelegt, die Amerikaner haben sogar einen Truppenabzug in den Raum gestellt.
Eskaliert der Konflikt zwischen den USA und dem Iran auf irakischem Boden, könnte das zu einem Wiedererstarken der Terroristen führen, fürchten Experten: Man könnte sich „nicht mehr um den Kampf gegen den IS kümmern“, weil Ressourcen anderswo gebunden seien, sagt Sicherheitsexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
Dass die Terroristen alles andere als verschwunden sind, bestätigt auch Julia Falkner. „Der IS sitzt noch in vielen Köpfen“, sagt sie. 18.000 Kämpfer unter Waffen gibt es im Irak und in Syrien noch, darunter 3.000 Ausländer, schätzt das US-Verteidigungsministerium.
Gerade in jenem Gebiet, in dem Falkners Klinik war, sei das mehr als spürbar gewesen. Die Geburtsstation liegt im Stadtteil Al Rafadain, wo die Bevölkerung arm, schlecht gebildet und konservativ ist.
Der IS hat dort den perfekten Nährboden gefunden“, sagt sie. Nach wie vor seien viele Familien dort, die „in ihrer eigenen Welt leben“, sagt sie. Eben auch Frauen, die in die Geburtsklinik kommen. „Viele sind der Überzeugung, dass alle Leute aus Al Rafadain Verbindungen zum IS haben“, sagt Falkner. Geholfen wird freilich ungeachtet der Ideologie.
Nach ihrer Gründung 2014 hat die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) große Territorien im Irak und in Syrien erobert.
Die internationale Anti-IS-Koalition konnte sie bis 2017 zurückdrängen, danach zogen sich viele Kämpfer in den Untergrund zurück. Die Anti-IS-Koalition hat nach der Tötung des iranischen Generals Ghassem Soleimani durch die USA ihren Einsatz im Irak vorläufig ausgesetzt.
Laut US-Verteidigungsministerium befinden sich noch gut 18.000 IS-Kämpfer im Irak und in Syrien, darunter 3000 Ausländer. Im Irak allein sitzen derzeit 17.000 Terrorverdächtige im Gefängnis.
Die Angst, dass die Terroristen wieder kommen, ist in der Bevölkerung dementsprechend groß. Die Geschichten, die man von damals höre, „sind sehr wild“, sagt Falkner. Musik, Handys, Alkohol – viele alltägliche Dinge waren verboten, und zwar per Todesstrafe.
Viel hat sich seither verändert, allein: Das Elend ist auch ohne den IS geblieben. „Die Menschen sind auf sich allein gestellt, es ist nicht wirklich viel Hilfe da“, sagt Falkner. Viele Teile der Stadt lägen noch in Ruinen, es gebe kein einziges wirklich funktionierendes Krankenhaus.
Schmiergeld
„Vor zehn Jahren war der Standard im Irak wie bei uns“, sagt Falkner, nach der Terrorherrschaft seien aber die meisten gut Ausgebildeten geflohen. Den Hebammen in ihrer Klinik habe sie etwa erklären müssen, was steriles Arbeiten sei: „Warum muss ich Handschuhe anziehen, wurde ich gefragt.“
Dazu kommt, dass das Personal oft monatelang nicht bezahlt wird. Wer Hilfe braucht oder ein Kind bekommt, braucht also Schmiergeld.
Vernaderung
Das alles ist ein Teufelskreis: Von den Geflohenen komme kaum jemand zurück, auch weil die Stadt nach wie vor von Gewalt gezeichnet ist. Beinahe täglich kämpfen Milizen mit der Armee, die fehlende staatliche Struktur begünstigt das Denunziantentum, sagt die junge Tirolerin.
Oft werde der Nachbar als IS-Sympathisant vernadert und sitze im Gefängnis, nur weil jemand ihn nicht leiden könne, erzählt sie. „Das alles erinnert mich stark an den Nationalsozialismus.“
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