Haiti: Wie ein ganzer Staat in die Hände von Kriminellen geraten konnte

„Man kann es auf den Straßen riechen“, sagt Giles Clarke. „Den Geruch der Toten.“
Clarke ist Fotojournalist für CNN, und was er aus Port-au-Prince erzählt, ist erschreckend: 80 Prozent der haitianischen Hauptstadt sind in Händen von Gangs, auf den Straßen brennt es, überall haben Menschen Barrikaden errichtet. Sie wollen und müssen sich selbst schützen, denn Staatsmacht in dem Sinne gibt es auf der Karibikinsel kaum mehr.
Seit Jahren schon befindet sich das Land, das schon von 1957 bis 1986 unter den Diktatoren „Papa Doc“ und „Baby Doc“ Duvalier eine beispiellose Schreckensherrschaft erlebte, in einer Abwärtsspirale. Das verheerende Erdbeben 2010, bei dem mehr als 300.000 Menschen starben, danach ein Jahre dauernder Cholera-Ausbruch - all das führte dazu, dass Kriminelle überall staatliche Strukturen ersetzen.
Als François Duvalier im September 1957 zum Präsidenten Haitis gewählt wurde, war er Hoffnungsträger: Der bitterarme Karibikstaat war zwei Jahrzehnte von US-Marines besetzt gewesen. Doch der Landarzt nutzte den Hass auf die USA bald, um eine Schreckensherrschaft zu etablieren: Er gründete eine der nationalsozialistischen SA nachempfundene Miliz, die "Tonton Macoute", übersetzt Knüppel aus dem Sack: sie rekrutierte sich aus Slumbewohnern und landlosen Bauern. Sie durften ungestraft stehlen, morden, vergewaltigen - und so dem Mediziner Duvalier, der dem Voodoo-Kult huldigte, die Herrschaft sichern.
Die Opposition verließ das Land deshalb ebenso wie Intellektuelle und wichtige Stützen der Gesellschaft. Von 750 in Haiti ausgebildeten Ärzten blieben nur 250 im Land. US-Präsident Kennedy ließ "Papa Doc" Duvalier deshalb die Militärhilfe streichen, der wiederum ließ sich 1964 zum Präsidenten auf Lebenszeit ernennen. Mit dem Vatikan schloss er eine Abmachung, um die aus dem Land vertriebenen Kirchenmänner zu ersetzen - er ernannte Priester und Bischöfe, die zum Teil bis heute im Amt sind.
Das Präsidentenamt gab Duvalier kurz vor seinem Tod 1971 an seinen Sohn "Baby Doc" weiter. Der setze das Unterdrückungsregime seines Vaters bis 1986 fort - da wurde er aus dem Land gejagt.
UN-Mission beschlossen
Am Wochenende eskalierte die Gewalt. Jimmy „Barbecue“ Cherizier, ein ehemaliger Polizist und derzeit der wohl stärkste Mann Haitis, erstürmte mit seinen Schergen zwei Gefängnisse, 4000 Häftlinge befreiten sie dabei – beinahe alle Gang-Mitglieder, die wegen brutalster Gewaltverbrechen einsaßen.
Der Zeitpunkt war nicht zufällig gewählt. Cherizier, Anführer des Gangnetzwerks „G9 und Familie“, will den Premier des Landes stürzen: Ariel Henry, der das Land seit der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Jahr 2021 mit autoritärer Hand regiert, war zu diesem Zeitpunkt in Kenia. Dort verhandelte er über die Entsendung kenianischer Soldaten nach Haiti. 10.000 Mann sollen im Auftrag der UNO helfen, die Lage in den Griff zu bekommen.

Gangs schlossen sich zusammen
Die Ankündigung des UN-Einsatz führte allerdings dazu, dass sich die zwei rivalisierenden Gangs, G9 und Gpèp, zusammenschlossen. Ihre Bandenkriege hatten das Land in komplettes Chaos gestürzt: Allein 2023 starben bei den Kämpfen zwischen den Gangs 4000 Menschen, 3000 wurden entführt, und 200.000 Menschen flohen innerhalb des Landes vor der Gewalt. Daneben operiert eine zivile Widerstandsbewegung, die Gangmitglieder auch ohne Beweis öffentlich lyncht. Die Banden selbst rekrutieren deshalb oft Kinder als Mitglieder, da sie ungefährlich erscheinen. Sie müssen oft die Leichen der Bandenkriege verbrennen – daher auch der Geruch, der über Port-au-Prince hängt.
Ob die UN-Soldaten überhaupt in Haiti landen werden, ist aber mehr als fraglich. Zum einen wurde ihre Entsendung vom kenianischen Höchstgericht aufgeschoben, der sie im Widerspruch zur Verfassung sah. Zum anderen ist Premier Henry selbst nicht unumstritten: Es gibt Hinweise darauf, dass er an der Ermordung von Präsident Moise beteiligt war, er agiert zudem in dessen Rolle, obwohl er nicht gewählt ist. 1600 Polizisten legten vergangenes Jahr auch deshalb ihre Jobs zurück. Die nur 10.000 Mann zählende Exekutive allein hat kaum Chancen gegen die Banden.

Jimmy "Barbecue" Cherizier - seinen Namen bekam er laut eigenen Angaben, weil seine Mutter Fried Chicken verkaufte. Andere sagen, er habe ihn, weil er Menschen bei lebendigem Leib verbrenne
Gangs als politische Akteure
Dazu kommt, dass das UN-Mandat bereits seit fünf Monaten läuft und nur für ein Jahr gilt – die Zeit arbeitet also für die Gangs. Beobachter mutmaßen daher, dass Henry möglicherweise nicht so schnell nach Haiti zurückkehren könnte, und dass die Banden sich selbst als politische Kräfte etablieren. Eine Abrüstung samt Amnestie wäre denkbar, sagt Diego Da Rin, Haiti-Experte bei der International Crisis Group, dem Guardian. Aber: "Die Banden haben das haitianische Volk so lange leiden lassen, dass es für normale Menschen sehr schwierig sein wird, Verhandlungen mit Leuten zu verstehen, die wahllos entführt, vergewaltigt und getötet haben.“
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