„Good luck!“, rufen sie noch, die Frau im Kurzarmshirt, der Mann im Pullover und die Dame vom Balkon, bevor der Parteichef im Erdgeschoßlokal verschwindet.
Sechs intensive Wochen
Es gab seit dem Weckerläuten kein anderes Gesprächsthema. Man wurde vom Radiomoderator erinnert und von der Facebook-App; man überhörte Gesprächsfetzen im morgendlichen Pendlerzug und beim Kaffeeholen im kleinen Takeawayladen. Nach sechs Wochen des intensiven Wahlkampfs war es soweit: Wahltag.
„Oh, ich bin unglaublich aufgeregt!“, sagt Christopher Carse, der am Vormittag in Nordlondon mit seinem Hund im Park spazieren ist.
„Es ist Zeit für Veränderung. Die konservative Regierung hat sich erschöpft. Sie haben einen kollektiven Nervenzusammenburch erlitten.“ Carse schmunzelt. Könnte noch irgendjemand, der für diese Partei wählt, wirklich glauben, dass sie eine lebensfähige Regierung zusammenbringen könnte? Egal, meint er dann. Labour würde es diesmal machen. Macht doch nichts, dass ihre Ansagen etwas langweilig waren. „Bring on Boring!“, ruft er und lacht. „Bringt sie ruhig her, die Langeweile!“
Rechtsgerichtete Zeitungen für Labour
Wie dürftig die Unterstützung für die Konservativen am Wahltag nicht nur von Christopher Carse, sondern dem ganzen Land war, zeigte ein Blick auf die Tageszeitungen: „Zeit für einen neuen Manager“ posaunte die Sun in riesigen Lettern vom Titelblatt, die in den vergangenen 19 Jahren nie diese Partei unterstützt hatte. Und auch die rechtskonservative Times musste sich eingestehen, dass „Labour vor der größten Mehrheit seit 1832“ steht.
Doch dafür - war Keir Starmer in den letzten Tagen nicht müde gewesen zu erzählen - müssten auch jene, die für Labour sind, auch für Labour abstimmen. Keinesfalls dürfte man sich darauf verlassen, dass die Wahl schon entschieden ist.
„Entschuldigung“, sagte also die Dame in blauer Bluse und roter Blume am Revers zu jedem, der in der Marchmont Street ins Wahllokal treten möchte. „Darf ich Ihre Wahlnummer wissen und ob Sie für Labour wählen?“
Wahlkreis unter Kontrolle
Sie will sicherstellen, dass jene Briten, die im Wahlkampf ihre Unterstützung für Labour angekündigt hatten, auch tatsächlich zur Wahl erscheinen. Jene, deren Namen sie nicht aus der Liste streicht, werden am Nachmittag durchgerufen und zu motivieren versucht. „Wir müssen doch alles dafür tun, dass wir genug Stimmen bekommen“, erklärt sie.
Und das ist hier, in Holborn und St. Pancras, besonders ausschlaggebend. In diesem Grätzel steht Keir Starmer zur Wahl. Selbst wenn Labour landesweite eine Mehrheit erhalten würde – ohne gewonnen eigenen Wahlkreis könnte Keir Starmer nicht Premierminister werden, weil er dann nicht Teil des Unterhauses wäre.
Richmond ohne Rishi?
Umgekehrt ist es genauso: Wenn im nordenglischen Richmond die Konservativen verlieren, ist Rishi Sunak seinen Parlamentssitz los.
Er wäre der erste amtierende Premier, dem das passiert. Obwohl er bei offiziellen Wahlkampfveranstaltungen bis zuletzt erklärte, dass der Kampf noch nicht verloren sei, hat er insgeheim wohl wenig Hoffnung. Laut Guardian hat ihm ein ehemaliger Kollege aus der Finanzbranche bereits einen Arbeitsplatz in einem Hedge-Fund-Büro angeboten. Auch Gerüchte, er könnte mehr Zeit in Kalifornien verbringen, machen die Runde.
Optimismus gewinnt
Aber obwohl am frühen Nachmittag nur vereinzelt Menschen das Wahllokal in der Marchmont Straße betreten, ist die Labour-Kontrolleurin mit der roten Blume mit der Beteiligung der Labour-Wähler ganz zufrieden.
Und in Keir Starmers Wahllokal in Kentish Town stehen sogar noch am Nachmittag die Wähler Schlange.
Der Brite Tolu Roberts tritt soeben heraus und folgt dem schmalen Hofpfad Richtung Ausgang. Beim großen „Polling Station“-Schild bleibt er aber noch einmal stehen. „Komm!“ Er deutet seiner Frau. „Machen wir noch ein Selfie.“ Er grinst in die Kamera. „Das muss festgehalten werden. Unsere erste Wahl in England. Und dann mit diesen Aussichten.“
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