Wenn man die Esplanade heute entlangspaziert, kann man die wenigsten Hotels betreten. Die Eingangstore sind mit Sperrholzplatten verbarrikadiert, von den Wänden fließen Rostflecken und bröckelnder Verputz. In einem besonders wuchtigen Exemplar stechen die verkohlten Streben des Dachstuhls in die Luft. Im April war im Ocean Hotel erneut Feuer ausgebrochen. Gelegt worden, mutmaßt Michael Towell. „Heute“, sagt der Pensionist, „ist Sandown ein Schandfleck.“
Ausstieg als Chance
Hätte der Brexit das nicht ändern sollen? Towell weicht dem Blick aus. „Sie haben uns versprochen, dass dann wieder mehr Geld für uns da ist, weil sie nicht alles der EU geben müssen.“ – „Dass wir dann wieder Kontrolle über unser Land haben“, sagt John Campbell, der auf die Reparatur seines Autos wartet. – „Dass sie sich auf die wesentlichen Dinge konzentrieren können und nicht in lächerliche Diskussionen um Maßeinheiten verstrickt werden“, sagt Zugfahrer Simon Bull, der in einem anderen Teil der Insel auf einer Parkbank sitzt.
Die Bewohner der Isle of Wight haben mit 61,91 Prozent überdurchschnittlich deutlich für den Brexit gestimmt, im gesamten Vereinigten Königreich waren es 51,89. Es ist ein Phänomen der Küste: Von den 120 Parlamentswahlkreisen mit Küstenlinie gewann in mehr als 100 die „Leave“-Bewegung.
Niedergang an der Küste
Tim Bale, Politikprofessor an der Queen Mary Universität in London, wundert das nicht. „Die Küstenstädte hatten eher als ihre Pendants im Landesinneren einen wirtschaftlichen Niedergang erlitten.“ Er holt aus: „Entweder – vor allem, aber nicht ausschließlich im Süden – , weil der Fremdenverkehr, der sie groß gemacht hatte, mit dem Aufkommen billiger Pauschalreisen an sonnigere Orte zurückging. Oder – vor allem im Norden – weil sie früher der Standort für eine nicht mehr existierende Schwerindustrie waren. Und dann waren da noch die Städte, die sich früher einer Fischereiindustrie rühmen konnten, dies aber nicht mehr tun.“
Doch dann kam der Brexit und die Pandemie und nichts wurde besser. Vielmehr trat das Gegenteil ein: 12 Gebiete auf der Isle of Wight gehören nun zu den am stärksten benachteiligten 20 Prozent Großbritanniens. 2023 war ein Viertel der Bevölkerung arbeitslos, landesweit ist es ein Fünftel.
Die Verkäuferin in einem der vielen Secondhand-Läden auf der Insel spürt das auch in ihrem Geschäft. „Früher sind die Leute öfters hereinspaziert, haben herumgestöbert und dann ein bisschen mehr gekauft, als sie geplant hatten. Heute erlauben sich viele gar nicht erst, hereinzukommen.“
Späte Reue
Und so reifte in den jüngsten Jahren die Erkenntnis in Michael Towell. In Simon Bull. In John Campbell. „Im Nachhinein betrachtet“, beginnen alle drei im Laufe des Gesprächs den Satz, „würde ich heute nicht mehr für den Brexit stimmen.“ Der Ärger geht weiter: Der desaströse Ist-Zustand, in dem sich die Insel befinde, ergänzt Michael Towell, sei die Folge des „extremen Kapitalismus“ und der „Korruption“. Es sei einer Partei geschuldet, die alles privatisierte, die das Land verkommen lasse und sich selbst dabei bereichere. Gemeint sind die Torys unter der aktuellen Führung von Rishi Sunak.
Derzeit sorgt etwa der Wettskandal für Schlagzeilen und schlechte Nachrede. Mittlerweile weiß man von 15 konservativen Politikern, dass sie auf den Termin der Parlamentswahl gewettet haben. Die Metropolitan Police kündigt strafrechtliche Untersuchungen an. „Wir waren einmal weltführend“, sagt Michael Towell und seufzt, „aber schau’ uns jetzt an.“
Doch nun könnte eine andere Wende auf die Isle of Wight zukommen. Die traditionell konservative Insel könnte sich bei der Wahl am 4. Juli rot färben. Die Labour-Partei hat die Region zu einem ihrer „Schlachtfelder“ erklärt. Aktuelle Prognosen stellen der Arbeiterpartei 40, den Konservativen nur halb so viel Prozent in Aussicht. Unter Keir Starmer könnte Labour 382 der 650 Abgeordnetensitze holen. Einen davon vielleicht für Isle of Wight-Kandidat Richard Quigley.
Zugführer Simon Bull drückt ihm jedenfalls die Daumen: „Beim ihm hat man das Gefühl, die Insel liegt ihm am Herzen und man sieht ihn oft. Anders als den Tory-Kandidaten.“ Den, meint Simon Bull, sehe man nur im Fernsehen.
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