Grenzenloser Frust über die Polit-Eliten in Südamerika
Die Protestbewegung in Kolumbien lässt nicht locker. Seit rund einer Woche gehen Menschen auf die Straßen – mit Töpfen, auf die sie lautstark mit Löffeln klopfen, soll eine neue Ära des sozialen Ausgleichs eingeläutet werden. Zusätzlich sollte am Mittwoch mit einem Generalstreik, zu dem die Arbeitergewerkschaft aufgerufen hatte, den Forderungen Nachdruck verliehen werden.
Am Rande dieser Demonstration kommt es immer wieder zu Ausschreitungen. Mindestens vier Todesopfer sind schon zu beklagen. Besonders tragisch ist das Schicksal des erst 18-jährigen Dilan Cruz. Er war am vergangenen Wochenende in der Hauptstadt Bogota offenbar von einem Gummigeschoß am Kopf getroffen worden.
„Gesicht“ des Protests
Am Montag erlag Cruz seinen Verletzungen – laut Medienberichten just an dem Tag, an dem er sein Maturazeugnis entgegennehmen hätte sollen. Mit Mahnwachen gedenken seine Mitstreiter des Schülers, der nun zum „Gesicht der Protestbewegung“ geworden ist.
Doch auch in Ecuador, Chile und Bolivien erheben sich die Bevölkerungen derzeit. In Venezuela tobt bereits seit Jahresbeginn ein erbitterter Machtkampf. Und auch in Brasilien gehen die Menschen verstärkt auf die Straßen (siehe auch Grafik). Ist der ganze Kontinent im Umbruch?
„Fest steht“, sagt die Lateinamerika-Expertin Ursula Prutsch zum KURIER, „dass sich die Zivilbevölkerung erhebt gegen semi-demokratische, politische Machtstrukturen. Sie will Partizipation, zudem artikuliert sie das Bedürfnis nach einem verlässlichen Staat.“ Dieser habe sich aus vielen Bereichen, das Gemeinwohl betreffen, zurückgezogen – Stichwort Infrastruktur.
Oftmals sei dies Hand in Hand gegangen mit einem neoliberalen Entwicklungsmodell. Doch nicht ausschließlich. „Boliviens Ex-Präsident Evo Morales ist sicher kein Rechter. Doch wie viele andere ist auch er der Gier der Macht erlegen, hob ab und hat den Pfad der Demokratie verlassen“, analysiert die österreichische Historikerin, die an der Uni München lehrt.
Insofern seien die Proteste ideologisch nicht in einem Links-Rechts-Schema einzuordnen, sondern spiegelten „die Unzufriedenheit der Menschen mit den politischen Eliten wider, die – oftmals korrupt – die Bevölkerungen vernachlässigen“.
Öffis als Krisen-Auslöser
Stichwort öffentlicher Transport. Der Großraum der kolumbianischen Hauptstadt Bogota etwa hat an die zehn Millionen Einwohner – aber keine U-Bahn, nur Busse. „Die stecken nicht nur im Stau, sondern sind auch hoffnungslos überfüllt. Das betrifft die Menschen ganz unmittelbar, wenn sie zwei Stunden zur Arbeit brauchen und dann wieder zwei Stunden zurück“, betont Prutsch.
Da genüge dann eine geringfügige Erhöhung der Ticket-Preise, und der (allgemeine) Frust entlade sich auch in gewalttätigen Aktionen. Das erkläre die Tatsache, dass bei den Protesten der Vorwoche in Bogota viele Bushaltestellen devastiert worden sind. Höhere Preise für die Öffis waren auch die Initialzündung für den Aufruhr in Chile und in Brasilien (bereits 2013).
Gespeist werde der Unmut, analysiert die Kennerin Lateinamerikas, aber auch von eklatanten Mängel im Bildungs- sowie Gesundheitssystem, oft unbezahlbaren Mieten und teuren Lebensmitteln: „Obwohl viele zwei Jobs haben, kommen sie damit kaum über die Runden. Ich kenne Familien in Chile, die müssen sich zu Monatsende einen Kredit nehmen, damit sie sich Nahrungsmittel kaufen können.“
Breite Protest-Allianz
Getragen werde der Protest vor allem von Gewerkschaften, Indigenen, Studenten und Schülern. Die Regierungen würden damit aber kaum angemessen umgehen können, meint Ursula Prutsch. „Dass in Kolumbien das Erste, das Präsident Duque einfiel, die Entsendung von Panzern und Soldaten war, ist ein Zeichen dafür, dass die Demokratie noch Schwächen hat.“ Erst später lud der rechte Hardliner zu einem „nationalen Dialog“.
Warum es zur Gewalt kommt
Und warum münden die anfänglich friedlichen Demonstrationen immer wieder in Gewaltexzesse? „Es ist ein Mix“, erläutert die Expertin, „aus unreflektierter Zerstörungswut und einem marxistisch-revolutionären Impetus. Dieser ist vor allem unter Studenten, aber auch unter Intellektuellen in ganz Lateinamerika im Gegensatz zu Europa noch stark verankert.“
Kolumbien:
Der Andenstaat ist das bisher letzte südamerikanische Land, in dem es zu massiven Sozialprotesten kam. Landesweit gehen seit einer Woche die Menschen auf die Straßen, um gegen die grassierende Korruption, die soziale Ungleichheit und für Verbesserungen im Bildungs- und Infrastruktur-Bereich zu demonstrieren. Bei Ausschreitungen starben mindestens vier Menschen. Präsident Ivan Duque, ein rechter Hardliner, ging zunächst auf Konfrontation, indem er das Militär mobilisierte, später lud er zum "nationalen Dialog". Die Proteste gehen dennoch weiter.
Ecuador:
Mitte Oktober kam es in dem kleinen Andenstaat zu massiven Sozialprotesten, im Zuge derer es schwere Ausschreitungen gab. Ausschlaggebend war eine geplante Streichung der Treibstoff-Subventionen, die Sprit um 100 Prozent verteuert und vor allem indigene Bauern getroffen hätte. Sie waren auch die Speerspitze des Protestes gegen Präsident Lenin Moreno, der eigentlich aus dem linken Lager kommend auf eine rechte, neoliberale Agenda umgeschwenkt ist.
Chile:
In dem Andenstaat sind bei gewalttätigen Ausschreitungen im Rahmen von Sozialprotesten schon mehr als 20 Menschen gestorben. Anlass des Aufstandes war eine angekündigte Erhöhung der Fahrpreise für die U-Bahn in der Hauptstadt Santiago. Doch die aufgestaute Wut der Manifestanten richtete sich auch ganz generell gegen die neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik des konservativen Präsidenten Sebastian Pinera.
Bolivarische Republik Venezuela:
In Venezuela tobt weiterhin der Machtkampf zwischen dem sozialistischen Präsidenten Maduro und dem selbst ernannten Interimspräsidenten Guaidó. In der Zwischenzeit geht die Bevölkerung vor die Hunde. 80 Prozent sollen schon unter der Armutsgrenze leben. Es fehlt an Lebensmitteln und Medikamenten. Die Inflation könnte heuer bis zu zehn Millionen Prozent betragen, die Währung Bolívar stürzte ins Bodenlose. Folge dieser Misere des potenziell reichen Öl-produzierenden Landes: An die 4,5 der gut 30 Millionen Venezolaner haben ihre Heimat verlassen.
Brasilien:
Im Land des Sambas polarisiert der seit Jahresbeginn regierende rechtspopulistische Präsident Bolsonaro die Gesellschaft. Im Bildungsbereich hat er massive Kürzungen vorgenommen. Dafür ist er dem Agro-Business entgegen gekommen, indem er das Amazonasbecken mit seinem einzigartigen Regenwald ökonomisch ausbeuten will - zulasten der Indigenen. Die Folge: Riesige Flächen wurden abgebrannt. Die linke Protestbewegung schart sich jetzt teilweise um den jüngst aus der Haft entlassen früheren Staatschef Luiz Inacio Lula da Silva.
Bolivien:
Der frühere linke Präsident Evo Morales hat sich nach Betrugsvorwürfen um die Wahl vom 20. Oktober ins mexikanische Exil abgesetzt. Als konservative Interimspräsidentin hat Jeanine Anez die Führung des Landes übernommen. Mit einem neuen Urnengang, zu dem Morales und engste Mitstreiter nicht mehr antreten dürfen, soll das Machtvakuum gefüllt werden. Das Morales-Lager ist empört, geht auf die Straßen und spricht wie sein Idol von einem Putsch. Das Land ist tief gespalten, immer wieder krachen die Antipoden aufeinander.
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