Gouverneur von Hiroshima: "Nukleare Abschreckung ist nur Fiktion"
Wer durch das Ausgehviertel von Hiroshima bummelt, kann sich kaum vorstellen, dass hier vor bald 80 Jahren die erste Atombombe einschlug, Hunderttausende Menschen vernichtete – und ein Trauma in der japanischen Seele hinterließ. Heute ist die 1,2 Millionen-Einwohner-Stadt eine boomende Metropole, die die Erinnerungskultur an den verheerenden Abwurf akribisch pflegt. Denkmäler, Museen, geführte Touren – sie alle führen den Schrecken vor Augen, der sich am 6. August 1945 dort zutrug.
Just an diesem Ort treffen sich heute, Freitag, die Staats- und Regierungschefs der G7-Staaten. Der Gouverneur der Provinz Hiroshima, Hidehiko Yuzaki, würde sie gerne in das Peace Memorial Museum einladen. Sein Ziel: Globale nukleare Abrüstung. Der KURIER traf ihn zum Interview.
KURIER: Was erwarten Sie sich vom G7-Gipfel in der Frage der Atomwaffen? Haben Sie eine Strategie, wenn das Ziel darin besteht, dass die Menschheit die Atomwaffen vernichtet?
Hidehiko Yuzaki: Natürlich werden wir auf dem Gipfel keine Einigung über die Abschaffung von Atomwaffen erzielen. Aber es ist wichtig, dass die Staats- und Regierungschefs der G7 spüren, was ihr Einsatz bedeutet, dass sie sich dieser Realität in Hiroshima bewusst werden. Wir hoffen, dass sie ihre Strategie in Bezug auf die Atomwaffen daran ausrichten werden.
Jeder, der das Peace Memorial Museum (Museum über den Atombomben-Angriff; Anm.) besucht, ist zutiefst erschüttert. Und ist der Meinung, dass diese Waffen beseitigt werden müssen. Es wird wahrscheinlich lange dauern, aber wir hoffen, dass die Staats- und Regierungschefs der G7-Staaten diesen Gedanken nach dem, was sie in Hiroshima erlebt haben, verinnerlichen. Wir wissen jedoch, dass es viele Schritte auf dem Weg zu dem Ziel gibt, Atomwaffen abzuschaffen.
Welche Schritte sollen das konkret sein?
Wir müssen an der Regel festhalten, dass wir sie nie wieder einsetzen werden. Ein weiterer Schritt ist das Versprechen der Länder, sie niemals als erstes Kriegsmittel einzusetzen, und auch die Unterstützung des Vertrags über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen. Aber der allererste Schritt ist, wie ich bereits gesagt habe, dass die Staats- und Regierungschefs nach Hiroshima kommen und spüren, was hier geschehen ist.
In der G7-Gruppe gibt es lediglich drei Länder, die über Atomwaffen verfügen: die USA, Großbritannien und Frankreich. Die anderen Atomwaffenstaaten sind außerhalb dieser Gruppe. Und gerade Russland droht seit dem Einmarsch in die Ukraine öfters mit einem Atomwaffen-Einsatz. Was ist Ihre Nachricht an Wladimir Putin?
Ich würde mir wünschen, dass der russische Präsident Hiroshima und unser Museum besucht und spürt, was andere fühlen. Wenn ich Putin etwas zu sagen hätte, würde ich sagen, dass er sich über die Folgen eines Atomwaffeneinsatzes im Klaren sein sollte. Eine Eskalation kann zu einer Spirale führen, die nicht mehr aufzuhalten ist.
Das würde auch Russland und seine Menschen und alles, was ihnen wichtig ist, in Mitleidenschaft ziehen. Auch Putin liebt sein Land, sein Volk und seine Familie. Ja, es gibt das Konzept der nuklearen Abschreckung, aber es ist nicht verlässlich, und der russische Präsident sollte sich dessen bewusst sein.
Was halten Sie von der Behauptung, dass Atomwaffen per se den Frieden garantieren? Das beste Beispiel ist vielleicht der Kalte Krieg, als weder die USA noch die Sowjetunion aufgrund der nuklearen Abschreckung einen direkten Krieg begonnen haben …
Ich lehne die Theorie ab, dass Atomwaffen den Frieden sichern. Die nukleare Abschreckung ist, wie ich bereits gesagt habe, nur ein Konzept, ja sogar nur eine Fiktion.
Diese war jedoch während des Kalten Krieges eine Realität, wie viele Experten behaupten.
Die Tatsache, dass die Menschheit seit mehr als 70 Jahren keine Atomwaffen mehr im Kampf eingesetzt hat, ist keine Garantie dafür, dass dies nicht mehr geschehen wird. Deshalb sage ich, dass die nukleare Abschreckung eine Fiktion ist. Und in mehreren Fällen hat sie beinahe nicht funktioniert.
Ob wir nun von Unfällen und Zufällen, aber auch von Fehleinschätzungen sprechen. Wir hatten einfach Glück, dass nichts passiert ist, aber das kann sich ändern. Die Theorie der nuklearen Abschreckung geht davon aus, dass sich Menschen rational verhalten. Aber ist zum Beispiel die russische Invasion in der Ukraine rational? Wahrscheinlich nicht.
Ihre Mission ist es, für den Frieden einzutreten, gleichzeitig verstärkt Japan sein Militär und beschafft Raketen für mögliche Gegenschläge, sieht sich durch China und nordkoreanische Raketentests bedroht. Was ist Ihre Meinung dazu?
Das ist ein klassisches Sicherheitsdilemma. Derzeit sehen wir in der Region den Beginn eines massiven Ungleichgewichts der militärischen Fähigkeiten. Dass Japan seine militärischen Kapazitäten verstärkt, verstehe ich, wir sollten aber immer vorsichtig damit sein, ehe es zu einer Eskalationsspirale kommt.
Wären Sie Premierminister, würden Sie ebenfalls Tomahawk-Marschflugkörper anschaffen?
Ja, unter den derzeitigen Umständen würde auch ich diese Entscheidung treffen. Allerdings würde ich parallel versuchen, einen stärkeren diplomatischen Austausch zu ermöglichen.
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