Görlitz: Eine Stadt in Sachsen sucht nach Menschen
Deutschlands östlichste Stadt hat viel zu bieten: Eine von Bomben weitgehend verschonte Altstadt, die Regisseure für Filmdrehs anzieht. Und den Vorteil, dass man sich hier das Wohnen noch leisten kann. Dennoch hat Görlitz ein Problem: Es fehlt an Bewohnern.
Etwas außerhalb der Stadt, in Görlitz-Weinhübel, sitzt Peter Goettler, freischaffender Künstler, in einem Pavillon mit zusammengewürfelten Möbeln. Hier, auf dem Gelände eines ehemaligen DDR-Kühlhauses, wo heute offene Werkstätten sind, Konzerte und Lesungen stattfinden, könnte bald sein neues Atelier stehen. Hätte man ihm das vor Wochen gesagt, hätte er es nicht geglaubt.
Der gebürtige Bayer, seit 20 Jahren in Berlin-Friedrichshain, sieht in der Kleinstadt mittlerweile mehr Perspektiven, als in der Millionenmetropole. Dort steige die Konkurrenz um Freiräume und das Tempo im Kunst- und Kulturbereich, „alles wird schnell wegkonsumiert“. In Görlitz hat sich für ihn erstmal Entspannung eingestellt – auch im Alltag: „Du kannst dir keinen Fahrradschlauch kaputt fahren, weil hier Glassplitter herumliegen, jeder hat sein Hundekot-Tütchen dabei. Ich habe gedacht, ich träume.“
Goettler, der Oryoki-Schalen aus Keramik macht, traditionelles Essgeschirr der Zen, nimmt am Projekt „Stadt auf Probe“ teil: Dabei sollen Menschen das Leben in Görlitz für vier Wochen testen – Wohn- und Arbeitsplatz werden ihnen gestellt. Das "Interdisziplinäre Zentrum für ökologischen und revitalisierenden Stadtumbau" (IZS) begleitet das Projekt wissenschaftlich, gefördert wird es vom Innenministerium.
Dreiviertel der bisherigen Teilnehmer kommen aus Großstädten, Berlin ist vorne dabei, erklärt Constanze Zöllter vom Projektteam des IZS. Was die Menschen ihrer Erfahrung nach raustreibt: Hohe Mietpreise, Verkehrslärm und Stress. In Görlitz leben heute 56.000 Menschen, vor der Wende waren es 70.000. Seit drei Jahren verzeichnet man leichten Zuwachs.
Gekommen und geblieben
Das liegt auch an den Möglichkeiten, die der Leerstand bietet. Zum Beispiel für Menschen wie Clemens Kießling. Der 29-Jährige führte in Dresden einen Online-Shop für fair produzierte Kleidung. Ein leistbarer Lager- und Verkaufsraum war dort nicht zu bekommen. In Görlitz hingegen fand er nicht nur das, sondern auch Menschen, die offen waren für neue Ideen. Mittlerweile hat er mit zwei Partnern die Görlitzer Jakobstraße wiederbelebt: Zuerst mit einem Restaurant, dann mit einem Co-working-Space samt Kindertagesstätte, Cafe und Kleiderladen.
Die Idee: Für Leute, die hier neu kommen, muss es Angebote geben. Genutzt werden sie auch von jenen, die schon immer hier waren. Das Engagement wird wertgeschätzt, berichtet Kießling, der aus dem sächsischen Erzgebirge stammt.
Für ihn ist klar, wenn man etwas verändern will, muss man dorthin gehen, wo es weh tut: „Das sind der ländliche Raum und die kleinen Städte“, sagt er mit Blick auf die politische Lage. Das rechte Image Sachsens ließe Menschen zögern herzukommen, dabei würden mittelständische Unternehmer dringend Fachkräfte suchen. Diese Problematik werde aber von einer Angstpropaganda überlagert, die auf einer Fehlentwicklung nach der Wiedervereinigung basiert. „Bis 1989 waren alle Unternehmen Volkseigentum. Danach konnte die Menschen, wenn sie Glück hatten, über die Treuhand Firmen erwerben oder aufbauen. Es gab keine Betriebe, die man von den Eltern vererbt bekam, alle starteten bei Null", erläutert Kießling. Jetzt aber hätten manche Menschen Angst, alles wieder zu verlieren und entwickeln daraus ein seltsames Gefühl der Selbstgerechtigkeit. Sie würden dies mit den ankommenden Flüchtlingen verbinden und sich als Benachteiligte sehen.
Auch die Probebewohner machen sich darüber Gedanken: Natürlich hatte Peter Goettler Bilder im Kopf, bevor er in die sächsische Kleinstadt kam. Da war der ungewisse Ausgang zur Wahl des Oberbürgermeisters: Das Duell zwischen AfD und CDU ging knapp für den konservativen Kandidaten Octavian Ursu aus. Und da wären noch die Witze der Freunde, da müsse er nun in Berlin ein bisschen was zurechtrücken: „Viele der Befürchtungen sind nicht eingetreten.“
Sebastian Schönberger, der ein paar Kilometer entfernt mit seinem Laptop im KoLABOR sitzt, ein Co-Working-Space, hat seine Probezeit fast hinter sich. Und in Görlitz vieles schätzen gelernt: Die Altstadt, die nicht zu stark saniert ist, habe viel Charme und erinnere ihn an das Dresden vor 15 Jahren. Oder schnell mal mit dem Fahrrad auf einen Kaffee nach Polen oder zum Badesee in Tschechien fahren. Aber reicht das, um in Görlitz eine Existenz zu gründen? Schönberger, der in der Film- und Videobranche arbeitet, könnte es sich schon vorstellen und gemeinsam mit anderen etwas auf die Beine stellen. Seit 2004 gibt es im Dreiländereck etwa das "Neiße Film Festival". Bevor er sich hier aber beruflich niederlässt, schaut er auch auf die politische Situation und will abwarten, was die Wahlen bringen und – „wie sind die Fördermaßnahmen und Kulturstrukturen?“.
Was die potenziellen Bewohner noch beschäftigt, wird vom Projektteam erhoben. Dazu gehört etwa die Anbindung. Knapp zweieinhalb Stunden fährt man mit dem Zug von Berlin – inklusive Umsteigen. Mit dem Auto sind es drei Stunden. Weit genug, um nicht täglich zu pendeln. Peter Goettler hat sich bereits eine Altbauwohnung gesucht – alle Zelte in Berlin abbrechen, kommt für ihn aber noch nicht in Frage. Er wird vorerst einmal zeitweise ein neuer Görlitzer.
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