Ein Gesicht ist hier in Görlitz unübersehbar plakatiert: Michael Kretschmer, der sächsische Ministerpräsident, seit Dezember 2017 im Amt, kommt aus der 56.000-Einwohner-Stadt. Und stellt sich hier als Direktkandidat für den Landtag zur Wahl. Sollte der 44-Jährige wie zuvor sein Bundestagsmandat verlieren und die CDU wie prognostiziert von der AfD überholt werden, könnte es für ihn sehr eng werden in der Staatskanzlei.
Doch noch ist Zeit und Kretschmer zieht durch Dörfer und Städte – an diesem Abend besucht er seine. Auf einem Gutshof brät der 44-Jährige für die Wähler Würstchen und diskutiert bis in den späten Abend über niedrige Löhne, langsame Züge, Diesel- und Plastikverbote. Müsste man seine Strategie beschreiben, wäre sie: Reden, reden, reden. Seit mehr als einem Jahr tourt der Mann durch Sachsen. Missmut versucht er dabei umzukehren: Als ein Gast sein niedriges Einkommen anspricht, das ihn zum Pendler macht, dreht Kretschmer die Statistik um: Das Lohnniveau sei niedrig, das finde er nicht gut, aber es steige an. Angst vor drohender Arbeitslosigkeit durch den Kohleausstieg versucht er mit Aussichten auf Neues entgegenzutreten: Ein Wasserstoff-Technologiezentrum soll enstehen - zusammen mit dem Siemens-Konzern, der hier sein Werk schon fast geschlossen hätte.
Die AfD erwähnt er an diesem Abend nur subtil: Sollte ihn jemand aus Protest nicht wählen, um denen in Berlin und Brüssel eines auszuwischen, würde das nicht viel bringen. Denn ihnen würde das Ergebnis egal sein. Sie würden nur die Schultern zucken, weitermachen und über Sachsen die Stirn runzeln, so Kretschmer. „Wir aber müssen am Ende mit dem Ergebnis leben,“ und meint vor allem sich selbst. Von den anwesenden Gästen, viele altere und langjährige CDU-Wähler, hat er wohl kaum was zu befürchten.
Anders ist da die Stimmung in der Innenstadt. Was bringt die Menschen dazu, ihr Kreuz bei der AfD zu machen? Eine Trafikantin am Marienplatz glaubt es zu wissen: „Da hauen sie uns Brocken hin, zuerst Flüchtlinge, dann das Klima, niemand fragt uns, aber wir wollen was anderes.“ Danach gefragt, was sie will, winkt sie ab: Sie sei ja schon 70, sie will gar nix mehr, außer, dass alles so bleibt, wie es ist. Und, nachdenklicher: Natürlich, gehe es ihnen gut. Die Flüchtlinge seien nicht viele, aber man sei skeptisch. „Wissen Sie“, sagt sie. „Wir mussten immer zwischen den Zeilen lesen, weil wir nie wussten, was man uns da verkaufen will. Wir sind eben gebrannte Kinder“, sagt sie mit Blick auf die DDR-Zeit. Görlitz galt als "Tal der Ahnungslosen", abgehängt und ohne Westsender-Empfang. Dann erzählt sie von ihrer früheren Arbeit in der Keramikmaschinenfabrik, die nach der Wende von den „Wessis“ aufgelassen wurde. Und dem Gefühl, als ihr Mann den letzten Arbeitstag im Braunkohle-Tagebau hatte.
Es sind Geschichten, die man hier in Sachsen auch an anderen Orten oft zu hören bekommt. Und sie offenbaren, dass hinter dem Zorn manchmal ein Gefühl steckt – die fehlende Anerkennung der Lebensleistung. Das lässt sich nicht einfach wegwischen, auch nicht von einem jungen Ministerpräsidenten, der seit zwei Jahren im Amt ist – und trotz florierendem Tourismus, leicht sinkender Arbeitslosigkeit, Zuwachs an neuen Bewohnern und vielen anderen Erfolgsgeschichten in Görlitz.
Erfolgsgeschichten
Zum Beispiel am Weinhübel, unweit des Bahnhofs. Hier steht das Kühlhaus, wo zu DDR-Zeiten die Staatsreserven gelagert wurden. Seit zehn Jahren ist es ein Ort für Kreative. Der 35-jährige Danilo Kuscher führt übers Gelände, öffnet schwere Türen, hinter denen sich mal eine Siebdruckwerkstatt verbirgt, ein Fotolabor, ein Konzertsaal oder eine Skateanlage. Aus Görlitz weggehen war für ihn keine Option. Der gelernte Elektriker wollte damals mit anderen etwas schaffen, um die Region voranzubringen. Es gebe hier viele, die das Potenzial der Stadt erkennen und anpacken, sagt er – „aber auch jene, die nur den Teufel an die Wand malen, als würde bald kein fließend Wasser mehr kommen“. Wenn die Alternative ist, sich abzukapseln, dann wisse er auch nicht, was das der Stadt bringen soll.
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