Helferin in Gaza: „Das Trauma kommt erst - und es wird bleiben, oft über Generationen"

Draußen, vor dem Fenster ihres Dienstzimmers zieht seit Stunden eine endlose Karawane des Elends vorbei. „Kaum war der Waffenstillstand in Kraft und die Straße nach Norden offen, waren Tausende unterwegs. Zu Fuß, auf völlig überladenen Eselskarren, in Autos, auf denen sogar die Motorhauben besetzt sind. Viele Familien haben die jungen Männer losgeschickt. Die sollen herausfinden, was von ihren Häusern in Gaza-Stadt noch übrig ist.“
Viel Hoffnung könnten sie sich wohl nicht machen, befürchtet Caroline Willemen: „In vielen Gebieten sind 80 Prozent der Häuser zerstört.“

Die Ärmsten kriegen nichts
Seit einer Woche ist die Holländerin wieder für die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ im Gazastreifen im Einsatz. Für ein paar Tage war sie zu Hause, nachdem sie den ganzen Sommer über die Hungersnot hier erlebt hat: „Es gab nichts mehr, nicht einmal mehr Wasser. Unser medizinisches Personal hat vier Tage lang ohne Nahrung Dienst in der Notaufnahme machen müssen.“
Inzwischen habe sich die Lage etwas gebessert: „Auf den Märkten, die damals völlig leer waren, gibt es jetzt wieder Nahrungsmittel. Das Schlimme ist nur, die Allerärmsten, die die ohnehin alles verloren haben, können sich die nicht leisten.“

Rund 400 Lkw voller Hilfsgüter durften am Samstag einfahren.
Die Hilfslieferungen für diese Menschen seien aber schon in den ersten Stunden nach dem Waffenstillstand wieder verstärkt worden. Am drängendsten sei es vor allem für die Kinder: In dem Feldspital, das sie koordiniert, würde regelmäßig akute Unterernährung bei ihnen festgestellt.
Optimismus fällt schwer
Nur einer der vielen Gründe, warum auch die erste Aussicht auf Frieden nicht für flächendeckende Euphorie gesorgt hat: „Ich habe den Ausbruch von Freude als sehr verhalten erlebt. Die Menschen haben zu viel durchgemacht. Da fällt es schwer, optimistisch zu sein.“
Man müsse, hier, im Süden des Gazastreifens, nur kurz auf die Straße gehen, um zu begreifen, wie viele Familien einfach alles verloren haben:„Egal, wo man hinschaut, ein Meer von Zelten - und viele finden nicht einmal mehr dort Platz. Vor meinem Fenster sitzt Nacht für Nacht eine Frau mit zwei kleinen Kindern. Für die gab es vermutlich kein Zelt mehr.“

Israels Streitkräfte zogen sich an die vereinbarte Grenze zurück
13 Treffer auf die Klinik
Im Feldspital ist man in diesen Stunden zumindest erleichtert, dass nicht ständig neue Schwerverletzte eingeliefert werden. Rund 200 waren es allein dieser Klinik pro Tag - besser gesagt, in dem, was von der Klinik noch übrig war. 13 schwere Treffer hat sie sie seit Kriegsausbruch abbekommen, zum Glück blieb zumindest die Notaufnahme stehen. Die Versorgung mit Medikamenten und medizinischem Material, die habe man immer irgendwie hingekriegt: „Wir standen ständig vor der Katastrophe, dann kam doch wieder eine Lieferung.“ Jetzt hofft man darauf, viele Patienten, die man gerade nur notdürftig versorgen konnte, ordentlich behandeln zu können: „Wir brauchen etwa dringend Fixierungen für all diese komplizierten Knochenbrüche.“
Kilometerweit für Wasser laufen
Der Blick über den Tag und über das erste Aufatmen hinaus, fällt auch den Helfern schwer: „Jetzt müssen wir überall anfangen, alles von Grund auf neu aufzustellen. Es wird Monate dauern, um auch nur die allerwichtigsten Einrichtungen wiederherzustellen. Das fängt schon bei der Wasserversorgung an, damit die Menschen nicht mehr kilometerweit laufen müssen, um dann in der Schlange zu stehen.“
Das Trauma kommt erst
Alles auf Anfang also, doch dieser Anfang wird von den Schrecken, den die Menschen hinter sich gebracht haben überschattet: „Es gibt so viele, die die vergangenen Monate nur damit verbracht, um ihr Überleben und das ihrer Verwandten zu kämpfen. Ich habe Kollegen, die mit dem Küchenmesser Granatsplitter bei ihren Verwandten entfernt haben, und ich habe solche, die die zerfetzten Leichen ihrer Kinder einsammeln mussten.“
Für all diese Menschen komme der Augenblick des Schocks erst, wenn der akute Kampf ums Überleben geendet habe, „wenn sie begreifen, was ihnen und ihren Familien wirklich zugestoßen ist.“ Willemen ist Expertin für die Traumata, die Kinder in Kriegsgebieten davontragen. Sie weiß, was hier auf sie zukommt: „Das Trauma kommt erst, und es wird lange anhalten - oft über Generationen.“
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