Politologe: "Für Erdoğan geht es ums Überleben"

Politologe Öktem: „Erdogan kann sich beim Referendum kein Niederlage leisten“
Politologe analysiert, warum der türkische Staatschef derart verbissen und untergriffig für "seine" Verfassungsreform kämpft.

Kopfschütteln, Sprachlosigkeit, Entsetzen – das sind die Reaktionen auf die jüngsten verbalen Entgleisungen von Recep Tayyip Erdoğan Richtung Deutschland. Weil dort Minister der regierenden AK-Partei nicht für die Verfassungsreform werben durften (siehe auch unten), sprach der türkische Staatspräsident unter anderem von "Nazi-Methoden". Doch was treibt den selbst ernannten "Sultan" an, derart harsch zu agieren? Kerem Öktem, Professor am Institut für Südost-Europa-Studien an der Universität Graz, hat die Antworten.

Zum Leitartikel: Erdoğan – schlimm für die Türkei, nicht für uns

"Heilsgeschichte"

"Es gibt verschiedene Gründe. Der erste ist sein persönlicher Werdegang. Erdoğan ist seit 30 Jahren in der Politik, und seine Laufbahn war im Wesentlichen ein steter Aufstieg. Und das gegen alle Widerstände, gegen das kemalistische System, gegen die Institutionen etc. Das ist seine individuelle Heilsgeschichte", analysiert der Türkei-Experte im KURIER-Interview.

Dazu komme zweitens ein ideologischer-religiöser Aspekt. "Erdoğan will weg von der kemalistischen Republik (mit Laizismus) und die Türken dorthin zurückführen, wo sie einmal waren", mit Anklängen an das Osmanische Reich und den politischen Islam.

Als dritte und wahrscheinlich wichtigste Triebfeder führt Öktem die aktuelle politische Lage in der Türkei ins Treffen. "Für den Präsidenten geht es bei dem Verfassungsreferendum (mit dem sich Erdoğan alle Macht sichern will, manche sprechen von Diktatur) ums Eingemachte, um sein Überleben", so der Wissenschaftler. Denn obwohl der Staatschef die Gegner der geplanten Neuerungen als "Terroristen" bezeichnete und ein demokratischer Diskurs darüber nicht möglich sei, "gibt es in der Türkei derzeit eine knappe Mehrheit für das ,Nein‘-Lager. Doch eine Niederlage kann er sich nicht leisten."

"Lebt von Polarisierung"

Deshalb trete er so rüde auf. "Und etwas Besseres als die Auftrittsverbote in Deutschland hätte ihm gar nicht passieren können", meint der Politologe, "so kann er wieder einmal den Mythos transportieren, dass die ganze Welt gegen die Türken sei, und dem Westen Doppelzüngigkeit vorwerfen." Um Inhalte gehe es schon lange nicht mehr, "wie jeder populistische Führer lebt Erdoğan von der Polarisierung, in der er sich als starker Mann präsentieren kann."

In Deutschland und Österreich rechnet Öktem mit einem Ja beim Verfassungsreferendum (16. April). Die Gründe: "Diese Leute müssen ja nicht in der Türkei leben. Sie haben im Schnitt eine niedrigere Bildung. Und die AKP hat die Auslandstürken intensiv unterstützt und sie so für ihre Projekte gewonnen."

Kommentare