Daher gehe ich nicht davon aus, dass es auf dem Lateinamerikagipfel heute und morgen eine Grundsatzeinigung zum Handelsabkommen geben wird.
Trotzdem stimmt mich Präsident Lulas Plan, die Abholzung des Amazonas bis 2030 zu beenden nicht nur mit Blick auf den Umweltschutz, sondern auch hinsichtlich einer baldigen Einigung zum Handelsabkommen positiv.
Die Staaten Lateinamerikas bezeichnen diesen Zusatzbrief als „Bevormundung“: Man will sich von Europa nichts vorschreiben lassen.
Das habe ich bei meinem jüngsten Besuch in Brasilia in jedem unserer Gespräche gespürt. Die Lula-Administration sieht die zusätzlichen Vorschläge als Einmischung in innere Angelegenheiten. Die brasilianische Regierung muss nun konkrete Gegenvorschläge zum Zusatzbrief vorlegen. Dann gibt es eine konstruktive Grundlage für weitere Gespräche.
Die EU bewegt sich häufig auf einem schmalen Grat zwischen dem Eintreten für die eigenen Werte und dem erhobenen Zeigefinger. Wir werden auch künftig für unsere Werte und Interessen einstehen. Gleichwohl sollten wir tunlichst vermeiden, unsere strategischen Partner zu belehren.
Der Dünkel einer vermeintlich moralischen Überlegenheit kommt in Lateinamerika schlecht an.
Kommt dann der Vorwurf der neokolonialen Attitüde Europas?
Diesen Begriff weise ich zurück. Unser Engagement für Menschenrechte und Umweltschutz ist nicht neokolonial. Aber der Ton macht die Musik. Manches bespricht man besser im kleinen Kreis – und nicht in aller Öffentlichkeit.
Wie kann man Brasiliens Präsident Lula entgegenkommen?
Jetzt gilt es, die konkreten Gegenvorschläge abzuwarten, uns zeitgleich aber vor Augen zu führen, dass die Alternative zum Mercosur-Abkommen überhaupt kein Abkommen wäre.
Wenn wir die Gelegenheit einer zeitnahen Einigung verstreichen lassen, riskieren wir ein ähnliches Schicksal wie nach den gescheiterten TTIP-Verhandlungen: den Verlust enormen wirtschaftlichen Potenzials.
Zeitgleich würde der chinesische Einfluss vor Ort weiter wachsen.
Und was sagen Sie den Kritikern auf europäischer Seite – also der österreichischen Regierung?
Wenn es jetzt keinen Deal gibt, dann gibt es überhaupt keine verlässlichen Garantien zum Erhalt des brasilianischen Regenwaldes. Dann gibt es keine verbindlichen Zusagen zur Stärkung der Arbeitsrechte. Dann gibt es keine Diversifizierung unser Handelsbeziehungen, die gerade jetzt dringend geboten ist.
Wenn wir unser Verhältnis zu China weniger risikoreich gestalten wollen („de-risken“), dann müssen wir andere Handelsbeziehungen mit Partnern stärken. Die Mercosur Staaten sind als wichtige Energie- und Rohstofflieferanten ein entscheidender Anknüpfungspunkt.
Wie antworten Sie auf die Skepsis der österreichischen Bauern, die fürchten, mit Rindfleischimporten geflutet zu werden?
Diese Kritik ist ernst zu nehmen. Die österreichische Regierung sollte den Landwirten die konkreten Vorteile des Abkommens erläutern und auch genau benennen, welche Nachteile ein Scheitern der Verhandlungen hätte.
Meine Überzeugung ist: In der Gesamtabwägung werden alle EU-Mitgliedstaaten von einem Abschluss des Abkommens profitieren.
Geht es denn Europa nun nur um die Rohstoffe aus Lateinamerika?
Die Diversifizierung unserer Handelsbeziehungen ist nicht das einzige Motiv. Ebenso geht es darum, beide Wirtschaftsblöcke grüner, digitaler und innovativer zu machen sowie unsere internationale Wertegemeinschaft durch neue Allianzen zu stärken.
Darüber hinaus wollen wir uns im Hinblick auf seltenen Erden von unserer Abhängigkeit von China befreien. Die Mercosur-Länder Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay sind zukunftsfähige Partner in all diesen Belangen.
Bei meinen Gesprächen in Lateinamerika bin ich auch auf eine wachsende Skepsis gegenüber China gestoßen. Diese begründet sich in Projekten wie dem Coca Coda Sinclair Staudamm in Ecuador – einem vermeintlichen „Triumph chinesischer Ingenieurskunst“.
Doch seit seiner Einweihung im Jahr 2016 gibt es nur Ärger: Risse durchziehen den Beton, ständige Reparaturen sind erforderlich und flussabwärts versandet der Rio Coca. Mit dieser Schadensbilanz zeigt die Schattenseiten des chinesischen Engagements vor Ort. Gleichzeitig verdeutlicht sie aber auch das Potenzial nachhaltiger europäischer Infrastrukturpläne.
Die Länder Lateinamerikas möchten vermeiden, dass in der EU-Gipfelerklärung Bezug auf den Russland/Ukraine-Krieg genommen wird.
In Brüssel sitzen viele Staaten am Tisch: 27 EU-Staaten und 33 aus Lateinamerika und der Karibik. Fast alle haben den russischen Angriffskrieg verurteilt. Die Bedenken einiger Staaten müssen wir akzeptieren, ebenso wie ihre Entscheidung, sich nicht an den Sanktionen gegen Russland zu beteiligen.
Die allermeisten Staaten in Lateinamerika und der Karibik treten wie wir konsequent für die internationale regelbasierte Ordnung ein.
Aber sie sehen den Krieg in der Ukraine als europäisches Problem an…
Dieser russische Angriffskrieg findet in Europa statt, aber er verletzt international geltendes Völkerrecht fundamental.
Der Ausgang dieses Krieges wird Konsequenzen für die weltweite Staatengemeinschaft haben. Denn sollte es der Ukraine nicht gelingen, diesen Angriffskrieg erfolgreich abzuwehren, ergäben sich daraus möglicherweise folgenreiche Konsequenzen für andere kleine und mittlere Staaten. Die Stärke des Rechts muss gelten, nicht das Recht des Stärkeren.
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