EU-Wahl: Französische "Gelbwesten" erwägen Kandidatur
Kann Emmanuel Macron nach dem Aufruhr der „Gelbwesten“, der Frankreich über sechs Wochen lang erschütterte, überhaupt noch gestalterisch wirken, geschweige denn seinen marktfreundlichen Reformkurs fortsetzen? Und ist dieser Aufruhr wirklich beendet? Diese Fragen beschäftigen die französische Öffentlichkeit zur Jahreswende.
Fakt ist, dass die Bewegung der „Gelbwesten“ zuletzt zwar schwächelte, aber weiterhin an Verkehrsknotenpunkten in einigen Landesteilen präsent ist und noch immer viel Sympathie genießt.
Unterstützung von Pfarrern
Nachdem die Gendarmerie die meisten Kundgebungsorte an Autobahn-Zubringern geräumt hatte, errichteten „Gelbwesten“ oft in der Nähe auf privaten oder kommunalen Grundstücken kleine Lager mit Buden und Weihnachtsbäumen.
In einigen Fällen kamen Pfarrer, um Weihnachten mit ihnen zu feiern. Während der ursprünglich leutselige französische Präsident, der für alle möglichen Selfie-Posen zu haben war, jetzt Auftritte unter Unbekannten, wenn überhaupt, nur mehr höchst selten wagt.
Auf dem Schafott
Nach und nach wird nun auch deutlich, wie sehr sich die französische Staatsführung während des Höhepunkts der Krise im Dezember gefährdet gefühlt hatte. In der Stadt Le-Puy-en-Velay in Zentralfrankreich, wo „Gelbwesten“ den „Präfekten“ (der oberste Beamte eines Amtsbezirks) belagert und seinen Amtssitz angezündet hatten, war Macron drei Tage später zu einem Solidaritätsbesuch vor der Präfektur erschienen.
Aber die Fahrt wurde zum Spießrutenlauf, als Macron vor Ort immer wieder beschimpft und bedroht wurde. Am Straßenrand hatten „Gelbwesten“ ein Schafott errichtet, eine menschengroße Schaufensterpuppe darunter gelegt und mit dem Slogan versehen: „Dich zu guillotinieren ist unser Projekt“.
Für das Ehepaar Brigitte und Emmanuel Macron hieß es ab da: Keine Kino-Besuche mehr, kein kurzfristiger Abstecher in ihre Pariser Lieblingsgaststätte „La Rotonde“, kein Einkauf beim nahen Bäcker, wie vorher üblich.
Die Macrons „verbunkerten“ sich im Elysée-Palast, wie das Pariser Blatt „Le Monde“ schildert. In der Nähe wartete ein Hubschrauber, stets starbereit, um den Präsidenten im Extremfall auszufliegen. Ein linksradikaler Parlamentarier gab wieder, was ihm Gelbwesten anvertraut hätten: „Macron wird wie Kennedy enden“. Es hagelte Drohungen gegen Abgeordnete der Partei von Macron.
Renitente Generäle
Hochrangige Militärs im Ruhestand, die auf einem rechten Webportal eine Erklärung veröffentlicht hatten, die den Staatschef als nicht legitim geißelte, mussten mit Sanktionsandrohungen in die Schranken gewiesen werden. Den zunehmend ermüdeten Polizisten und Gendarmen wurden eine Sonder-Prämie von 300 Euro und eine Gehaltsaufbesserung von 150 Euro monatlich gewährt.
Freilich: auch Macrons Vorgänger im Präsidentenamt mussten angesichts von Hassparolen und gewaltschwangeren Aufmärschen von Arbeitern, Bauern, Studenten oder auch Polizisten zeitweilig auf Tauchstation gehen, das hat in Frankreich Tradition. Aber die Schnelligkeit (Macron ist erst eineinhalb Jahre im Amt), die Breite und Popularität (bis zu 80 Prozent laut Umfragen) der jüngsten Aufstandsbewegung hat überrascht und die Reaktion der Staatsführung ungemein erschwert.
Ohne Parteien und Gewerkschaften
Das hängt damit zusammen, dass die „Gelbwesten“ aus dem Nichts, also einem organisatorischen Vakuum heraus entstanden sind. Weder Gewerkschaften noch Parteien spielten eine Rolle.
Wie Studien inzwischen belegen, sind die allermeisten „Gelbwesten“ auch nie bei einem Verband gewesen, obwohl die Altersklassen zwischen 35 und 64 Jahren überwiegen. Ausgelöst wurde die Bewegung durch lose Initiativen auf Facebook gegen Gebührenerhöhungen auf Sprit. Diese trafen in erster Linie einkommensschwache Pendler, die abseits der Großstädte wohnen.
An ihren Tag und Nacht besetzten Sammelpunkten konnten sich Personen, die sich oft mit schwierigen finanziellen Situationen alleine herumschlugen, gegenseitig stützen und untereinander austauschen.
Der Soziologe Yann Le Lann konstatierte in einem Interview in Le Monde, dass eine breite Mehrheit unter den „Gelbwesten“ aus „verbitterten Arbeitnehmern kleiner Betriebe“ bestehe, die dort, mangels gewerkschaftlicher Vertretung, kaum Verbesserungen ihres Gehalts oder ihrer Arbeitsbedingungen erwirken konnten.
Daher dehnten sich die ursprünglichen Forderungen aus zugunsten einer Art von Programm für mehr „Anerkennung und soziale Gerechtigkeit“ – darunter die Forderungen nach Erhöhung des in Frankreich staatlich fixierten Mindestgehalts und nach Wiedereinführung der (von Macron abgeschafften) „Großvermögenssteuer“.
Recht auf Volksabstimmungen
Politisch gipfelte das in dem Wunsch nach einem Recht auf Volksabstimmungen (diese sind bisher in Frankreich an sehr hohe Hürden gebunden: ein Fünftel der Parlamentarier und ein Zehntel der Wahlberechtigten müssen sich gemeinsam dafür aussprechen). Wobei die radikalsten Kräfte jetzt darin ein Mittel sehen, die von ihnen verhassten Parlamentarier faktisch zu entmachten, indem sie alle vom Parlament beschlossenen Gesetze einem Referendum unterwerfen wollen.
Von ihrem politischen Hang her, so ergaben die Studien, sind unter den „Gelbwesten“ drei Strömungen auszumachen: jeweils ein links- und rechtsfundamentalistischer Flügel und dazwischen eine breite Strömung von Personen, die politischen Organisationen misstrauen und zur Wahlenthaltung neigen. Aber dabei handelt es sich nur um die wirklich aktiven „Gelbwesten“, also einige zehntausend Personen.
Das eigentliche Wählerverhalten schaut anders aus: laut Umfrage in Hinblick auf die EU-Wahlen im Mai 2019 würde die Partei der Nationalistin Marine Le Pen mit 24 Prozent in Führung gehen (sie war schon 2015, mit fast 28 Prozent, zur relativ stärksten Partei geworden), eine weitere rechte Anti-EU-Partei käme auf 8 Prozent.
Die Kräfte um Macron könnten auf 18 Prozent absacken (im ersten Durchgang der Präsidentenwahlen 2017 hielt Macron bei 24 Prozent). Auf verschiedene Linksaußen-Parteien würden insgesamt 15 Prozent entfallen. Die Grünen könnten mit 8 Prozent rechnen. Die bürgerlichen „Republikaner“ müssten sich mit 11 Prozent begnügen, die SP fiele unter fünf Prozent.
„Gelbwesten“ bei der EU-Wahl?
Wenn aber die „Gelbwesten“ als eigene Liste kandidieren, wie es einige Gruppen unter ihnen erwägen, würde alles anders kommen: Eine „Gelbwesten“-Partei wird laut Umfragen derzeit auf 12 Prozent geschätzt, die Partei von Le Pen würde auf 14 Prozent abstürzen und Macrons Bewegung mit 21 Prozent in Führung gehen.
Insofern schöpft die Staatsführung wieder Hoffnung. Macron hat zuletzt Steuersenkungen und Stützen in einer Höhe von über 10 Milliarden Euro zugunsten von Arbeitnehmern und Rentnern angekündigt. Das geht zwar auf Kosten des mit der EU vereinbarten Defizit-Abbaus und dürfte auch die von Macron betriebene Abgaben-Reduzierung für Unternehmer verlangsamen.
Gegenüber beiden, also der EU-Kommission und der Unternehmerschaft, hat aber Macron nunmehr einen deutlich fordernden Ton angeschlagen, für den er, angesichts des Aufruhrs in Frankreich, auch jeweils Verständnis findet.
Landesweite Diskussionen
Alles weitere, nämlich der künftige Reformkurs, soll bei landesweiten Konsultationen mit Lokalpolitikern, Bürgerinitiativen und „Gelbwesten“ breitest vorbereitet werden. Diese Diskussionsphase könnte, so wird im Elysée laut nachgedacht, sogar in eine Volksabstimmung münden. Die Staatsführung würde somit eine Forderung der „Gelbwesten“ aufgreifen, um sich selber neu zu erfinden.
Die Frage ist bloß, ob Macron, der sich mit arroganten Sprüchen selber schwer beschädigte, überhaupt ein Mindestmaß an Gehör bei den gebeutelten Teilen der Bevölkerung erringen kann.
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