Warum die Militarisierung Europas von Aufrüstung weit entfernt ist

Einer von nicht einmal 300 deutschen Kampfpanzern
Der Kreml wirft der EU vor, sich zu "militarisieren" - ein Blick in die Abrüstungsgeschichte zeigt, dass sie sich vor allem demilitarisiert hat.

Nachdem die Europäische Union plant, den lange vernachlässigten Verteidigungssektor nach- beziehungsweise "aufzurüsten", wirft Russland Europa vor, sich zu "militarisieren", statt einen Frieden anzustreben. 

"Die Signale aus Brüssel und den europäischen Hauptstädten betreffen größtenteils Pläne zur Militarisierung Europas", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Donnerstag. Dadurch sei Europa zur "einer Art Kriegspartei" geworden.

Atombomben auf europäische Hauptstädte gefordert

Unerwähnt bleibt von Peskow der Grund, warum die Europäische Union wieder mehr Geld in die Hand nimmt: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine so wie ständige Drohungen russischer Politiker wie Ex-Präsident Dmitri Medwedew, der regelmäßig nukleare Schläge auf europäische Hauptstädte fordert.

In diesen wurden in den vergangenen drei Jahrzehnten – nach Ende des Kalten Kriegs – die jeweiligen Verteidigungsetats in Sektoren wie Bildung, Soziales etc verschoben. Man war davon überzeugt: Einen konventionellen Krieg werde es in dieser Form nicht mehr geben. Die Balkan-Kriege schienen in den Planungen der west- und mitteleuropäischen Hauptstädte nicht vorzukommen – man verließ sich auf die USA.

Nachdem Washington bereits seit Barack Obama darauf drängt, Europa solle sich stärker auf die eigene Verteidigung konzentrieren – und diese Forderungen weitgehend ignoriert wurden, scheinen die meisten EU-Staaten drei Jahre nach Kriegsbeginn in der Ukraine handeln zu wollen. Vor allem vor der Möglichkeit eines Wegfalls der US-Unterstützung im Ernstfall. 

Die „Aufrüstung“ Europas lässt sich erklären, vergleicht man die Zahlen von 1991 und heute.

So verfügte etwa Deutschland 1991 über:

  •  5.045 Kampfpanzer – heute 295
  •  476.288 Soldaten – heute 180.150

Kampfpanzer in Westeuropäischen Streitkräften

  • Spanien: 327 Kampfpanzer
  • Frankreich: 222 Kampfpanzer
  • Vereinigtes Königreich: 227 Kampfpanzer

Zum Vergleich: Russland verfügt etwa über 4.000 einsatzbereite Kampfpanzer

Ähnlich verhält es sich bei vielen anderen, vor allem süd- und westeuropäischen Streitkräften. Während vor allem die osteuropäischen Staaten, allen voran Polen, weit über dem Zwei-Prozent-Ziel der NATO sind, hinken vor allem Deutschland und Spanien hinterher. 

50.000 schwere Waffensysteme vernichtet

Doch auch wenn die europäischen NATO-Staaten bald ein Drei-Prozent-Ziel erreichten, bedeutet das nicht automatisch, dass die kriegsfähig sind: Mangelnder Wehrwille, veraltete Ausrüstung, massiver Munitionsmangel, hohe Pensionierungswellen – die Probleme sind vor allem in Westeuropa beinahe überall dieselben. Etwa 50.000 schwere Waffensysteme wurden in Europa seit Ende des Kalten Kriegs vernichtet.

Ohne US-Unterstützung würde es etwa in puncto Aufklärungsdaten mangeln – im All ist Europa militärisch noch schwächer als auf einem eventuellen Schlachtfeld. Und Satellitenaufklärung sowie -kommunikation ist auf dem modernen Schlachtfeld essenziell.

In puncto Drohnenkriegsführung – diese erlebt quasi täglich eine Revolution im Ukraine-Krieg – scheinen europäische Streitkräfte auch drei Jahre nach Kriegsbeginn wenig Anstalten zu machen, größere Ausbildungspläne in den Streitkräften zu implementieren.

Zukunftsfragen

Und dann stellt sich die Frage, wie NATO-Verteidigungskräfte ohne die USA strukturiert werden sollen: Die Abläufe, Befehlsketten etc. liefen wohl nach NATO-Schema ab, doch wer führt? Ein französischer General? Ein Deutscher? Ein Brite? Wie soll eine operative Führung möglich sein, wenn die deutsche Bundeswehr nach wie vor damit beschäftigt ist, passende Funkgeräte für ihre Fahrzeuge zu finden?

Europas Bestrebungen, konventionell verteidigungsfähig zu werden, stecken also noch in den Kinderschuhen. Sollte in den kommenden Jahren der Plan aufgehen, mehr in die Verteidigung zu investieren und das strukturiert und gemeinsam zu tun, dürfte frühestens etwa 2030 von einer plausiblen, konventionellen Verteidigung die Rede sein (der derzeit diskutierte nukleare Schutzschirm ist ein eigenes Kapitel). 

Vor diesem Hintergrund von einer „Aufrüstung“ oder „Militarisierung“ zu sprechen, ist nichts anderes als Teil der russischen Informations-Kriegsführung. Ein Feld, in dem Moskau seit jeher stark ist. Und auch dieses Mal fallen Peskows Meldungen auf fruchtbaren Boden – in einer Gesellschaft, die zu gewissen Teilen nicht mehr daran glaubt, das System, in dem sie lebt, verteidigen zu müssen. 

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