EU setzt London Ultimatum im Streit um Brexit
Die EU hat von der britischen Regierung verlangt, ihre Pläne für eine Änderung des Brexit-Vertrages bis spätestens Ende des Monats zurückzunehmen. Das Vorhaben habe das Vertrauen zwischen beiden Seiten "ernsthaft beschädigt", erklärte die EU-Kommission am Donnerstag. Die Behörde warnte dabei, dass die EU auch vor rechtlichen Schritten "nicht zurückschrecken" werde.
Unterdessen wuchs auch bei den britischen Konservativen der Druck auf Premier Boris Johnson. Dessen Stellvertreter Michael Gove signalisierte aber nach einem Krisengespräch mit EU-Kommissionsvizepräsident Maros Sefcovic in London Härte und wies das Ultimatum zurück. Seine Regierung "werde und könne" das geplante Binnenmarktgesetz nicht zurückziehen, sagte Gove am Donnerstagnachmittag.
Überraschend hatte die britische Regierung diese Woche angekündigt, einseitig den im Jänner verabschiedeten Brexit-Vertrag ändern zu wollen. Dabei geht es um die Aussetzung von Zollregelungen im Warenhandel für die Provinz Nordirland und von Vorgaben zu Staatsbeihilfen für britische Unternehmen.
Die EU sieht dies als klaren Verstoß gegen das Brexit-Abkommen. Kommissionsvizepräsident Sefcovic war deshalb am Donnerstag nach London gereist, um Klarstellungen zu verlangen. Die EU akzeptiere das britische Argument nicht, dass es Ziel der Änderungspläne sei, das Karfreitagsabkommen für die Beendigung des Nordirlandkonfliktes zu schützen, erklärte die Kommission nach dem Treffen von Sefcovic und Gove. "Vielmehr ist sie der Ansicht, dass sie das Gegenteil tut."
Aus EU-Diplomatenkreisen verlautete, Gove habe bei dem Treffen lediglich "Phrasen gedroschen". In EU-Kreisen wurde die Vermutung laut, Johnson drohe mit der Verletzung des Scheidungsvertrags, um bessere Konditionen in den Handelsvereinbarungen mit der EU durchzusetzen. "Wenn sie das versuchen, dann wird das scheitern", hieß es.
Tatsächlich endete am Donnerstag die bereits achte Verhandlungsrunde in den Verhandlungen über den Handelspakt ohne Annäherung. Chefunterhändler Michel Barnier berichtete von "erheblichen Unterschieden" bei den Themen, die für die EU von entscheidender Bedeutung seien. Die EU habe sich bei den Roten Linien Großbritanniens flexibel gezeigt, doch umgekehrt sei dies nicht geschehen. "Um eine künftige Partnerschaft zu schließen, ist gegenseitiges Vertrauen und Zutrauen nötig und wird es auch künftig sein", sagte Barnier in offenkundiger Anspielung auf den angekündigten Bruch des Brexit-Abkommens durch London.
Der Brexit-Experte der deutschen Unionsfraktion forderte am Donnerstag eine Ende der Verhandlungen zwischen EU und Großbritannien, sollte die Regierung in London vom Austrittsabkommen abrücken. "Es macht keinen Sinn, mit einem Vertragspartner über den Abschluss eines neuen Vertrages zu verhandeln, wenn er sich an geschlossene Verträge nicht hält", sagte Detlef Seif (CDU).
Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) warf der britischen Regierung einen Verstoß gegen internationale Gesetze vor. "Die Basis unseres Demokratieverständnisses sind Regeln, auf die wir uns geeinigt haben. Dazu zählt insbesondere das Grundprinzip, dass Verträge einzuhalten sind: 'pacta sunt servanda'", unterstrich Edtstadler in einer Stellungnahme gegenüber der APA.
Die Nordirland-Frage war eine der schwierigsten bei der Aushandlung des Austrittsabkommens zwischen der EU und Großbritannien. Ziel beider Seiten war es, Grenzkontrollen zum EU-Mitglied Irland zu verhindern, um ein Wiederaufflammen des blutigen Nordirlandkonflikts zu verhindern.
Bei Johnsons Konservativen warnten hochrangige Vertreter vor einem Bruch internationaler Verträge. "Wie können wir mit Russland, China oder Iran umgehen, wenn ihr Verhalten hinter international akzeptierten Standards zurückfällt", fragte der ehemalige Parteichef Michael Howard im Oberhaus. "Wenn wir unseren vertraglichen Verpflichtungen so wenig Beachtung schenken?" Ex-Premier John Major warf seinem konservativen Parteifreund Johnson vor, über Generationen gewachsenes Vertrauen zu verspielen. "Unsere Unterschrift unter Verträgen oder Abkommen war heilig", sagte er.
Auf EU-Seite bezeichnete Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian eine Verletzung des Austrittsabkommens als "inakzeptabel". Der irische Premierminister Micheal Martin, der am Mittwochabend mit Johnson telefonierte, sagte, ein solches Vorgehen wäre eine "grobe Verantwortungslosigkeit" angesichts der schon gravierenden wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise.
Eine deutliche Warnung an London kam auch aus den USA: Die demokratische Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, sagte, ein mögliches Handelsabkommen mit den Vereinigten Staaten werde niemals durch den US-Kongress kommen, wenn London das Karfreitagsabkommen untergrabe.
Am Vormittag war bereits bekannt geworden, dass die EU rechtliche Schritte prüft. Nach einem Rechtsgutachten für die Mitgliedstaaten könnte die EU Klage vor dem Europäischen Gerichtshof einreichen, der Strafzahlungen gegen Großbritannien verhängen könnte. Alternativ könnte das im Austrittsvertrag festgelegte Streitschlichtungsgremium angerufen werden, das gleichfalls Strafgelder beschließen könnte.
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