HDP warnt vor einer "Diktatur" in der Türkei

HDP-Anhänger in Diyarbakir
Die pro-kurdische Partei beschloss nach der Verhaftungswelle einen weitgehenden Parlaments-Boykott.

Aus Protest gegen die Verhaftung ihrer Vorsitzenden und zahlreicher weiterer Abgeordneter in der Türkei hat die pro-kurdische HDP einen weitgehenden Boykott des Parlaments beschlossen. Die zweitgrößte Oppositionspartei im Parlament in Ankara teilte am Sonntag mit, sie ziehe sich zunächst aus allen Gesetzgebungsverfahren zurück. Über das weitere Vorgehen werde sie mit ihren Anhängern beraten. Der HDP-Abgeordnete Ziya Pir sagte der Deutschen Presse-Agentur, eine denkbare Option sei die Aufgabe der 59 Mandate der Partei im Parlament. Vorerst werde die Fraktion sich aber weiter treffen.

In einer in der Kurdenmetropole Diyarbakir verlesenen Erklärung der HDP hieß es, die Partei reagiere damit auf "den umfassendsten und schwärzesten Angriff in der Geschichte unserer demokratischen Politik". Die Partei warnte zugleich vor einer "Diktatur" in der Türkei. Am Freitag war gegen die Doppelspitze aus Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag sowie gegen sieben weitere Abgeordnete der HDP wegen Terrorvorwürfen Untersuchungshaft verhängt worden.

Beratungen über weitere Vorgehensweise

Der deutsch-türkische Abgeordnete Pir - der nach seiner Festnahme am Freitag wieder freigelassen, aber mit einem Ausreiseverbot belegt worden war - sagte: "Wir werden nicht am Plenum und nicht an den Ausschüssen teilnehmen." Die HDP-Fraktionssitzungen im Parlament sollten aber weitergeführt werden.

Fraktionschef Idris Baluken gehört zu den Abgeordneten, die in Untersuchungshaft sitzen. Erdogan wirft der HDP vor, der verlängerte Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK im Parlament zu sein.

Pir sagte: "Wir werden uns zurückziehen und in den nächsten zwei, drei Wochen mit der Bevölkerung und den demokratischen Kräften in der Türkei diskutieren, wie wir weitermachen. Dann entscheiden wir. Wir halten uns alle Optionen offen." Denkbar seien sowohl "eine Rückkehr zur parlamentarischen Arbeit oder die Aufgabe der Mandate". Er fügte hinzu: "Wir geben die Entscheidung an unsere Wähler ab."

Schüsse auf dem Flughafen

Nach Schüssen auf dem Atatürk-Flughafen in Istanbul blockierten die Behörden indes die Zu- und Abfahrt des Airports, berichtete der Sender CNN Türk in der Nacht auf Sonntag. Demnach hatte die Polizei geschossen, nachdem ein Motorrad die Anordnung, stehen zu bleiben, nicht befolgt hatte. Einer der beiden Männer auf dem Motorrad wurde laut dem TV-Bericht verletzt und festgenommen. Der zweite wurde ebenfalls gefasst, hieß es.

15 weitere Festnahmen

Bei Razzien gegen die PKK im Südosten der Türkei nahm die Polizei der amtlichen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge 15 Verdächtige fest. Der Einsatz habe sich auf die Provinz Adana konzentriert, meldete die Agentur am Sonntag.

Am Samstagabend setzte die Polizei nach einer Kundgebung der HDP in Istanbul Wasserwerfer, Tränengas und Plastikgeschosse ein, wie Teilnehmer berichteten. Auf Plakaten forderten Demonstranten "Demokratischen Widerstand gegen jede Art von Putsch" und "Fasst unsere Vorsitzenden nicht an". Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan geht im Ausnahmezustand mit harter Hand gegen Kritiker vor.

Untersuchungshaft gegen Cumhuriyet-Chefredakteur

Am Samstag war Untersuchungshaft gegen den Chefredakteur der regierungskritischen türkischen Zeitung Cumhuriyet, Murat Sabuncu, und acht seiner Mitarbeiter verhängt worden, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete. Sie waren am vergangenen Montag ebenfalls unter Terrorverdacht festgenommen worden. Die Cumhuriyet-Mitarbeiter werden beschuldigt, die PKK und die islamische Gülen-Bewegung unterstützt zu haben. Erdogan macht den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen für den Putschversuch von Mitte Juli verantwortlich. Gülen weist das zurück.

Erdogan weist internationale Kritik zurück

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat Kritik an der Verhaftung von Oppositionsabgeordneten zurückgewiesen und seinerseits Vorwürfe gegen den Westen erhoben. Die Abgeordneten der pro-kurdischen HDP bezeichnete er bei einem Auftritt in Istanbul am Sonntag erneut als verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK im Parlament. Erdogan betonte, Kritik aus dem Ausland sei ihm gleichgültig. "Es kümmert mich überhaupt gar nicht, ob sie mich einen Diktator oder Ähnliches nennen. Das geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Wichtig ist, was mein Volk sagt."

Erdogan sagte mit Blick auf die verhafteten HDP-Abgeordneten, niemand in der Türkei stehe über dem Gesetz. "Wenn Sie sich nicht wie ein Abgeordneter, sondern wie ein Terrorist verhalten, dann werden Sie wie ein Terrorist behandelt." Der EU warf Erdogan erneut vor, PKK-Anhängern Unterschlupf zu bieten, obwohl die PKK auch dort auf der Liste der Terrororganisationen stehe.

EU ortet "Rückfall"

Die EU-Kommission zeigt sich über die Ereignisse in der Türkei „ernsthaft besorgt“. Das geht aus ihrem neuen Bericht zur Beitrittsreife des Landes hervor. Der Entwurf zum knapp hundert Seiten langen Bericht soll der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vorliegen. "Im Bereich der Meinungsfreiheit hat es im letzten Jahr einen schwerwiegenden Rückfall gegeben", zitiert die Zeitung aus dem Entwurf. Der Bericht soll am Mittwoch veröffentlicht werden.

Die Kommission bemängelt, dass Rechtsbestimmungen über die nationale Sicherheit und zum Kampf gegen Terrorismus "selektiv und willkürlich" angewendet würden. Sie äußere sich "ernsthaft besorgt" über die vielen verhafteten Journalisten und die Schließung von Medien seit dem gescheiterten Putsch im Juli. Auch hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz sei von einem "Rückfall" die Rede, berichtete die FAS. Ein Fünftel der Richter und Staatsanwälte sei nach dem Putschversuch entlassen worden.

Putsch, Ausnahmezustand, Folter

Die EU-Kommission kritisiert der Zeitung zufolge außerdem, dass Beschuldigte während des weiterhin geltenden Ausnahmezustands bis zu dreißig Tage in Haft sein könnten, bevor sie einem Richter vorgeführt werden. Die EU-Kommission verweise auf Berichte, dass in diesem Zeitraum Gefangene immer wieder gefoltert worden sein sollen. Mehrfach wird in dem Fortschrittsbericht laut FAS hervorgehoben, dass der türkische Staat nicht nur gegen einzelne Menschen vorgehe, sondern sie wegen ihrer angeblichen Verbindung zur Gülen-Bewegung, die laut Ankara hinter dem Putschversuch steht, kollektiv unter Verdacht stelle. Die Vagheit der Kriterien und der Anhaltspunkte dafür gebe Anlass zu "sehr ernsten Fragen". Es entstehe der Eindruck, dass Schuld durch bloße "Assoziation" begründet werde.

Der Bericht wurde - wie üblich - von Beamten verfasst. Er listet Mängel auf, empfiehlt aber keine künftige Vorgehensweise. Das Land werde als "Schlüsselpartner" eingestuft, schreibt die Zeitung. Die politische Bewertung ist demnach Sache der Kommissare, die am Mittwoch darüber beraten, sowie der EU-Mitgliedstaaten.

Türkischer Europaminister trifft Vertreter der EU-Staaten im Land

Der Europaminister der Türkei wird die Vertreter aller EU-Staaten in Ankara zu einem außerplanmäßigen Treffen einberufen. Ömer Celiks Ministerium erklärte am Sonntag, der Minister werde dabei über die "jüngsten Entwicklungen im Land" berichten. Das Treffen soll demnach am Montag stattfinden.

Kern fordert klare Haltung der EU

Österreichs Bundeskanzler kern äußerte sich am Samstag via Facebook zu den Geschehnissen in der Türkei. Er schreib unter anderem, die EU müsse sich nun zu einer klaren Haltung durchringen: "Mit der Verhaftung von Parlamentariern der Oppositionspartei HDP und der polizeilichen Schließung einer der angesehensten Tageszeitungen, Cumhuriyet, ist ein Punkt erreicht, an dem wir uns als EU endlich zu einer klaren Haltung durchringen müssen. Das sind inakzeptable Anschläge auf Demokratie und Pressefreiheit." Mehr dazu hier.

Auch die Vorsitzende von Reporter ohne Grenzen (ROG) in Österreich, Rubina Möhring, die zur Zeit als Prozessbeobachterin in Istanbul ist, kritisierte Erdogans Regierung im APA-Gespräch scharf. "In der Türkei gibt es keine Pressefreiheit", meinte Möhring. Dieses Grund-und Menschenrecht sei nur noch auf dem Papier existent.

Kurdische Extremistengruppe TAK bekannte sich zu Anschlag

Indes hat sich die kurdische Extremistengruppe Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) einem Medienbericht zufolge zu dem Bombenanschlag im Südosten bekannt. Einer ihrer Kämpfer habe das Selbstmordattentat in Diyarbakir verübt, bei dem elf Menschen getötet wurden, meldete die Nachrichtenagentur Firat am Sonntag, die den kurdischen Rebellen nahestehen soll. Der Anschlag vom Freitag sei eine Antwort auf die "mörderische Politik" und den "erbarmungslosen Druck" der Regierung im Südosten des Landes, hieß es in der Erklärung weiter. Regierungschef Binali Yildirim hatte bereits die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) für den Angriff verantwortlich gemacht. Die TAK ist eine Splittergruppe der PKK. Sie hat sich bereits zu drei schweren Anschlägen in diesem Jahr bekannt: einem Selbstmordanschlag im Februar in Ankara mit 28 Toten, einem weiteren Attentat in der türkischen Hauptstadt im März mit 34 Toten und einer Autobombe in Istanbul, durch die im Juni elf Menschen getötet wurden.

Allerdings beansprucht auch die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) die Täterschaft des Attentats von Diyarbakir für sich. Das berichtete das auf die Überwachung islamistischer Internetseiten spezialisierte US-Unternehmen Site unter Berufung auf die IS-nahe Agentur Amaq.

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