Ex-Sowjetrepubliken rücken näher an die EU

Poroschenko, Merkel: „Historischer Tag“ für die Beziehungen zwischen der Ukraine und der EU
Assoziierungsabkommen unterzeichnet, Moskau droht mit "schwerwiegenden Konsequenzen".

Nach der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zückte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko noch einmal den Kugelschreiber, mit dem er gerade unterschrieben hatte: "Vilnius, 29. November" war darauf zu lesen – für diesen Tag war die Unterzeichnung ursprünglich geplant gewesen, der damalige Präsident Janukowitsch blies sie kurzfristig ab, was die anhaltende Krise in der Ukraine auslöste.

"Damals ist es nicht passiert", sagte Poroschenko, "aber der Kugelschreiber ist derselbe, um zu zeigen: Historische Ereignisse sind unvermeidlich".

EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy sprach von einem "Meilenstein in der Geschichte unserer Beziehungen"; Poroschenko sagte, es handle sich "um den wichtigsten Tag für mein Land seit unserer Unabhängigkeit".

Tatsächlich rückt die Ukraine damit ein Stück näher an Europa heran: Nachdem im März schon der politische Teil des Abkommens unterzeichnet wurde, folgte am Freitag jener zum Handel. Und der könnte der wirtschaftlich angeschlagenen Ukraine rasch helfen, indem sie Zugang zum EU-Markt mit mehr als 500 Millionen Verbrauchern erhält: Vorgesehen ist, dass beide Seiten fast vollständig auf Zölle für Handelswaren verzichten, die Ukraine passt dafür ihre Vorschriften an jene der EU an. Zudem wird der freie Kapitalverkehr garantiert, die Ansiedlung von Betrieben erleichtert, öffentliche Ausschreibungen für die andere Seite werden geöffnet.

Signal an Russland

In abgeschwächter Form und mit weniger ehrgeizigen Zeitplänen gilt all das auch für Georgien und Moldau: Auch mit ihnen wurden am Freitag in Brüssel Assoziierungsabkommen unterzeichnet; auch hier spielt der Handel eine wichtige Rolle. Die Abkommen enthalten aber auch Zusagen über Reformen von Sicherheitspolitik über "gute Regierungsführung" bis hin zum Verbraucherschutz.

Dass die EU die drei Abkommen zum jetzigen Zeitpunkt, trotz der anhaltenden Spannungen mit Russland, abgeschlossen hat, ist ein starkes Zeichen, dass die EU die Westintegration dieser Länder fördert.

Van Rompuy und EU-Kommissionschef José Manuel Barroso betonten zwar, dass sich die Abkommen nicht gegen Russland richteten. Doch die erwartete Antwort aus Moskau ließ nicht lange auf sich warten: Der russische Vize-Außenminister Grigory Karasin drohte mit "schwerwiegenden Konsequenzen", ein Sprecher von Präsident Putin kündigte "Maßnahmen" an, falls die Abkommen negative Auswirkungen auf die russische Wirtschaft haben sollten.

Putin arbeitet seit Langem an der Eurasischen Wirtschaftsunion aus Ex-Sowjetrepubliken, die 2015 mit Russland, Kasachstan und Weißrussland startet. Die EU sieht das locker und würde ihren Mitgliedsländern auch eine Teilnahme an der Eurasischen Union erlauben.

Die Staats- und Regierungschefs haben sich am ersten Gipfeltag am Donnerstag auf eine Zeitreise begeben: Die erste Station führte sie 100 Jahre zurück, an den Beginn des Ersten Weltkrieges. Bei einem Spaziergang über die Schlachtfelder von Ypern, einer Kleinstadt in Westbelgien, gedachten sie der Millionen Toten. Ypern ist symbolhaft für die erste große Katastrophe des 20. Jahrhunderts und soll daran erinnern, dass die Europäische Union für „Nie wieder Krieg“ steht und Konflikte heute am Verhandlungstisch ausgetragen werden.

Nach der beeindruckenden Zeremonie warfen die Regierungschefs bei einem Abendessen einen Blick in die Zukunft der EU – und was sie hier sehen, ist auch nicht erfreulich: Trotz strenger Regeln, die Schulden abzubauen, die Banken zu kontrollieren und den Wettbewerb anzukurbeln, dümpelt Europas Wirtschaft dahin. Die Arbeitslosigkeit ist noch immer sehr hoch, mehr als 50 Prozent der Jugendlichen in Spanien oder Griechenland, aber auch 40 Prozent in Italien, haben keinen Job. Das Wachstum ist gering, der Wohlstand nicht auf Dauer garantiert.

Kurswechsel nötig

Europa braucht einen Kurswechsel. Bundeskanzlerin Angela Merkel verlangt ein „überzeugendes Paket an inhaltlichen Prioritäten“. Und dazu zählt auch eine neue Auslegung des 2011 verschärften Stabilitätspaktes.

Die Staats- und Regierungschefs beschließen einen „flexiblen Gebrauch“ des Stabi-Paktes. „Die Haushaltskonsolidierung muss wachstumsfreundlich fortgesetzt werden“, heißt es im Text der Schlussfolgerungen des Gipfels. Es müsse eine „Balance zwischen Haushaltsdisziplin und der notwendigen Unterstützung von Wachstum“ geben. Die „flexible Gestaltung“ wird mit hoher Staatsverschuldung in manchen Ländern, mit hohen Arbeitslosenzahlen, dem demografischen Wandel in der Gesellschaft und der notwendigen Schaffung neuer Jobs begründet.

„Stabi-Pakt neu“

Bis Dezember wird die EU-Kommission eine „ganzheitliche Bewertung des Stabilitätspaktes“ vorlegen. Künftig bekommen Länder, die ein Budgetdefizit haben, mehr Zeit, ihren Haushalt zu sanieren – wenn sie nachhaltige Reformen durchführen. Man will auch die Regeln für die Kofinanzierung von EU-Mitteln lockern: EU-Gelder gibt es in der Regel nur dann, wenn national etwas draufgelegt wird; in vielen Fällen muss für jeden Euro aus Brüssel ein Euro aus der Staatskasse gezahlt werden.

Angesichts der Sparzwänge tun sich die Staaten aber schwer mit der Kofinanzierung – Italien etwa kann aktuell 15 Milliarden Euro, die in Brüssel bereitliegen, nicht abrufen. Deshalb wird überlegt, die Kofinanzierungsraten zu senken, was für Griechenland schon gilt. Athen zahlt fünf Prozent zu den EU-Fondsmittel. Möglich wäre auch, die Kofinanzierung nicht mehr auf das Staatsdefizit anzurechnen.

Bundeskanzler Werner Faymann forderte eine stärkere Bekämpfung des Steuerbetrugs und Projektanleihen für Investitionsvorhaben.

„Rote“ Handschrift

Experten in Brüssel bewerten die angepeilten Änderungen am Stabilitätspakt mit einem Erfolg für Europas Sozialdemokraten – und für Italiens Regierungschef Matteo Renzi sowie Frankreichs Staatspräsident François Hollande. Beide forderten vehement ein lockereres Haushaltskorsett der EU.

Einen neuen Wirtschaftskurs will auch Jean-Claude Juncker. Donnerstagabend bekam der luxemburgische Christdemokrat von der überwältigenden Mehrheit der EU-Granden grünes Licht, Kommissionspräsident zu werden. Am Freitag steht seine offizielle Nominierung auf dem Programm. Davor ist ein Arbeitsfrühstück mit Kanzler Faymann geplant, bei dem neben dem Programm der nächsten Jahre das Ressort für Johannes Hahns zweite Amtszeit als Kommissar besprochen werden soll.

Ob es eine Abstimmung über Juncker geben wird, war bis zuletzt offen. In einer solchen würde dem britischen Premier David Cameron, der Juncker ablehnt, nur Ungarn zur Seite stehen. Merkel und andere Regierungschefs sagten, eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit wäre „kein Drama“.

Weitere Top-Jobs sollen bei einem Treffen am 17. Juli beschlossen werden. Es geht um die Nachfolge der Außenbeauftragten Catherine Ashton und des Ratspräsidenten Herman Van Rompuy. Überraschend hat die Favoritin für den Posten, Helle Thorning-Schmidt, am Donnerstag erklärt, „keine Kandidatin“ zu sein. Sie bleibe lieber dänische Ministerpräsidentin.

Schutz für Sozialsystem

Abgesehen von der Personalie Juncker will Merkel inhaltlich aber nach wie vor auf Cameron zugehen; auch Juncker selbst hat zuletzt immer wieder von einem „neuen Deal“ für die austrittsgefährdeten Briten gesprochen. Dazu dürfte – neben einem gewichtigen Ressort für den Kommissar – zählen, dass im „Regierungsprogramm“ für die Kommission auch die Binnenmigration gelöst werde: Die Personenfreizügigkeit ist als Grundrecht zwar unantastbar. Doch soll es mehr Spielraum für die Staaten geben, die Sozialsysteme vor Missbrauch zu schützen.

Mit einem Thema wird sich Juncker kaum befassen müssen: Die Erweiterung zählt in den nächsten Jahren nicht zu den Prioritäten.

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