Eigentlich hätten Europas Staats- und Regierungschefs einmal Grund gehabt, einander auf die Schultern zu klopfen: Die härtesten Phasen der Corona-Pandemie scheinen bewältigt. Die von der EU-Kommission initiierten Impfkampagnen sind voll angelaufen. Bis Sonntag sollen 220 Millionen Europäer mindestens einmal gegen Covid-19 geimpft sein - rund 60 Prozent der Erwachsenen in der EU. Und auch die vielen Hilfsmilliarden für Europas Wirtschaft werden demnächst fließen.
Gefeiert wurde am Donnerstag in Brüssel trotzdem nicht.
Denn die Hoffnung auf Entspannung machte beim EU-Gipfel dieses Mal Ungarns Premier Viktor Orbán zunichte: Das Parlament in Budapest billigte ein Gesetz, das ein Verbot von Filmen und Texten für Kinder und Jugendliche vorsieht, in denen Sexualität dargestellt wird, die von der heterosexuellen abweicht.
Zudem wird Werbung verboten, in der Homosexuelle als Teil einer Normalität erscheinen.
Und was 17 EU-Regierungschefs besonders empört: Das Gesetz rückt Homosexualität in die Nähe von Pädophilie.
Gemeinsam hielten die 17 überwiegend west- und mitteleuropäischen Regierungschefs, darunter Bundeskanzler Sebastian Kurz, Orbán deshalb ein Protestschreiben entgegen: Man werde weiter gegen die „Diskriminierung der LGTBI-Gemeinschaft und die Verteidigung der Grundrechte kämpfen“, heißt es darin.
„Selbstverständlich werden wir darüber sprechen“, antwortet Kurz auf die Frage, ob er Orbán auf das Gesetz ansprechen werde. Die härteste Attacke in einer ganzen Serie der Kritik europäischer Regierungschefs ritt der Niederländer Mark Rutte. Ungarn müsse das Gesetz zurückziehen, verlangte er. „Wenn nicht, haben sie hier keinen Platz mehr.“
Orbán, der „Kämpfer“
Doch Orbán beunruhigte der Proteststurm seiner Regierungskollegen herzlich wenig. Er weiß: Vorerst hat er wenig zu fürchten.
Den Rauswurf aus der EU gibt es nicht. Vertragsverletzungsverfahren dauern lange, und selbst bis die neue EU-Rechtsstaatsklausel zum Tragen kommt, bei der Ungarn viele Milliarden an EU-Hilfen verlieren könnte, dürften noch Monate vergehen.
In Brüssel konterte er also selbstbewusst: Das Gesetz werde natürlich nicht zurückgezogen. Wer es kritisiere, habe es nicht richtig gelesen. Denn er, Orbán , sei ein „Kämpfer für die Rechte von Homosexuellen“.
Für Debatten beim Gipfel sorgte einmal mehr auch das „giftige“ Thema Migration. Vor allem Italiens Premier Mario Draghi drängte darauf, dass Italien Lasten abgenommen und Flüchtlinge besser in Europa verteilt werden.
Dagegen aber legte sich nicht nur Kanzler Kurz quer – der gesamte EU-Gipfel wollte sich in das bis jetzt unlösbare Streitthema nicht schon wieder verbeißen.
Einiger war man sich da schon bei der Zusage für eine Verlängerung des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals: 3,5 Milliarden Euro soll die Türkei in den kommenden drei Jahren erhalten. Damit werden die etwa 3,7 Millionen syrischen Flüchtlinge versorgt.
Und ein weiteres heikles Thema stand beim Abendessend des Gipfels auf dem Programm: Die schlechten Beziehungen der EU zu Russland. Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fordern:
Neue Gesprächsformate seien nötig, also auch EU-Gipfel mit Vladimir Putin.
Kurz begrüßt das: „Es kann nicht sein, dass sich der Dialog mit Russland und der EU darauf beschränkt, dass wir da sitzen und zusehen, was Biden und Putin miteinander besprechen.“
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