EU-Botschafter in Kabul empfiehlt, Abschiebungen nach Afghanistan auszusetzen
Die EU-Botschafter in Afghanistan empfehlen, Abschiebungen in das Krisenland vorerst auszusetzen. Angesichts des sich verschärfenden Konflikts, der prekären Sicherheits- und Menschenrechtslage sowie des Mangels an sicheren Räumen im Land werde empfohlen, eine vorübergehende Aussetzung von Zwangsrückführungen aus EU-Mitgliedstaaten nach Afghanistan zu erwägen, heißt es in einem am Dienstag an die Mitgliedsstaaten versendeten Bericht der EU-Missionschefs in Kabul.
Abschiebungen nach Afghanistan sind wegen der sich massiv verschlechternden Sicherheitslage umstritten. Zuletzt hatte das afghanische Flüchtlingsministerium EU- und andere europäische Länder dazu aufgerufen, ab Juli für drei Monate die Abschiebungen einzustellen. Die militant-islamistischen Taliban kontrollieren mittlerweile knapp mehr als die Hälfte der Bezirke des Landes.
Den Mitgliedsstaaten wird in dem Brief, der der Deutschen Presse-Agentur in Auszügen vorliegt, zudem empfohlen, die Unterstützung und den Einsatz der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und des UN-Flüchtlingshilfswerks in Pakistan, dem Iran und der Türkei fortzusetzen und zu verstärken, da diese Länder den größten Zustrom von Flüchtlingen aus Afghanistan aufnehmen dürften.
Es ist ungewöhnlich, dass eine derartige Empfehlung ausgedrückt wird. Migrationsfragen sind eigentlich Kompetenz der Mitgliedsstaaten. Die Missionschefs vor Ort können bestimmte Themen analysieren und hinterfragen, aber nicht in Hauptstadtentscheidungen eingreifen. In Kabul betreiben noch acht EU-Länder Botschaften, Österreich nicht. Alle Missionschefs haben den Bericht unterzeichnet.
Österreich hält an Abschiebungen fest
In Österreich hat sich zuletzt die Debatte rund um einen möglichen Abschiebestopp verschärft. Zuletzt war ein geplanter Abschiebeflug Anfang August abgesagt worden. Die Bundesregierung hält aber an den Abschiebungen fest.
Unterdessen fordern die USA und die NATO die Taliban zu einem Ende ihrer Angriffe in Afghanistan auf. Der US-Sondergesandte Zalmay Khalilzad sei nach Katar abgereist, um "die Taliban zur Beendigung ihrer Militäroffensive und zu Verhandlungen über eine politische Lösung zu bewegen", sagte das US-Außenministerium am Montag. Die NATO bewertet den gewaltsamen Vormarsch der Taliban als besorgniserregend. Auch die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, zeigte sich alarmiert.
In den für drei Tage angesetzten Gesprächen in Katar wollen die USA mit Vertretern von Ländern in der Region sowie mit multilateralen Organisationen auf eine Verringerung der Gewalt und einen Waffenstillstand hinarbeiten und sich dazu verpflichten, keine mit Gewalt durchgesetzte Regierung anzuerkennen, hieß es. Khalilzad hatte maßgeblich die Modalitäten des Abzugs der US-Truppen mit den Taliban ausverhandelt.
Die NATO sieht das hohe Maß an Gewalt der Taliban bei ihrer Offensive, darunter Angriffe auf Zivilisten und Berichte über Menschenrechtsverletzungen, mit "tiefer Sorge", teilte ein NATO-Offizieller der Deutschen Presse-Agentur mit. Die Taliban müssten verstehen, dass die internationale Gemeinschaft sie nie anerkennen werde, wenn sie den politischen Prozess verweigerten und das Land mit Gewalt erobern wollten. "Sie müssen ihre Angriffe beenden und redlich an Friedensgesprächen teilnehmen."
Berichte aus den Regionen legten nahe, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden, teilte UN-Menschenrechtshochkommissarin Bachelet am Dienstag in Genf mit. Seit dem 9. Juli seien in vier Städten, darunter Kunduz, mindestens 183 Zivilisten ums Leben gekommen und fast 1.200 verletzt worden, so Bachelet. Die wahren Zahlen seien wahrscheinlich deutlich höher. Seit Beginn der Taliban-Offensive im Mai seien mindestens 241.000 Menschen durch Kämpfe vertrieben worden.
Massenhinrichtungen
Aus Gebieten, die die Taliban eingenommen hätten, würden Massenhinrichtungen gemeldet sowie Angriffe auf Regierungsvertreter und ihre Familien, erklärte die Menschenrechtskommissarin. Schulen, Kliniken und Wohnhäuser würden zerstört und Anti-Personenminen ausgelegt. Frauen dürften nach diesen Berichten ihre Häuser nicht mehr verlassen. In einigen Fällen sollen Frauen in der Öffentlichkeit geschlagen worden sein, wenn sie gegen die neuen Regeln verstießen. Eine Frauenrechtlerin sei erschossen worden. "Die Menschen befürchten zurecht, dass die Machtübernahme der Taliban alle Fortschritte der letzten zwei Jahrzehnte im Menschenrechtsbereich ausradiert", sagte Bachelet.
Beim Vormarsch der Taliban rückt unterdessen die Stadt Mazar-e-Sharif in den Fokus. Die Aufständischen schickten sich am Dienstag nach Angaben von Bewohnern an, ihre Kontrolle über jüngst eroberte Gebiete in der Region zu festigen und befanden sich in der Position, von verschiedenen Richtungen aus auf Mazar-e-Sharif vorzustoßen. Sollte die größte Stadt in der Region in die Hand der Extremisten fallen, wäre das ein weiterer herber Rückschlag für die Regierung in Kabul. Präsident Ashraf Ghani appellierte daher Beratern zufolge an regierungsfreundliche Milizen, seine Truppen zu unterstützen. Der Chef einer Miliz im Norden gelobte, Mazar-e-Sharif bis zu seinem "letzten Tropfen Blut" zu verteidigen. "Ich sterbe lieber würdevoll als verzweifelt", schrieb Atta Mohammad Noor auf Twitter. Die Taliban rücken nach Angaben von Einwohnern außerdem in Aybak vor. Die Hauptstadt der Provinz Samangan liegt an der Hauptverbindungsstraße zwischen Mazar-e-Sharif und Kabul.
Seit dem Beginn des Abzugs der internationalen Truppen Anfang Mai haben die Taliban massive Gebietsgewinne verzeichnet und erobern derzeit eine Provinzhauptstadt Afghanistans nach der nächsten. Die Taliban hatten von 1996 bis zur US-geführten Intervention 2001 weite Teile Afghanistans unter ihrer Kontrolle.
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