Warum die EU kein Interesse mehr an Astra Zeneca hat
Er war der erste Impfstoff, den sich die Europäische Union vertraglich sicherte: jener von Astra Zeneca. Im August 2020 orderten die europäischen Staaten in Summe 300 Millionen Impfdosen – weitere 100 Millionen sollten bei zusätzlichem Bedarf als Option gezogen werden können. Als Vertrauensvorschuss und um sicherzugehen, dass die bestellten Mengen tatsächlich produziert und auch rechtzeitig geliefert werden können, schoss die Union dem britisch-schwedischen Unternehmen 336 Millionen Euro vor.
Was folgte war eine Serie an Pannen, Lieferschwierigkeiten, Vertragsstreitigkeiten, Imageproblemen und Negativschlagzeilen. Nun hat die EU die Reißleine gezogen: Die Kommission verzichtet auf eine Verlängerung ihres Impfstoff-Liefervertrags mit Astra Zeneca über Juni hinaus. Das teilte Binnenmarktkommissar Thierry Breton mit.
Dabei beginnt alles so verheißungsvoll. Mit Aufkeimen der Pandemie entwickelt die Universität Oxford einen Impfstoff gegen das neuartige Virus: vektorbasiert, also auf einer bereits erprobten, anerkannten und zugelassenen Technologie. Und das ganze zum Selbstkostenpreis: Oxford betont von Beginn an, den Impfstoff für die Dauer der Pandemie ohne Gewinnabsicht vertreiben zu wollen.
Ein Partner muss gefunden werden. Die Uni Oxford führt erste Gespräche mit GlaxoSmithKline. Das britische Unternehmen mit Hauptsitz in London winkt ab. Da die Forscher großen Wert auf einen britischen Partner legen, klopft man schließlich bei Astra Zeneca an. Die Partnerschaft scheint perfekt.
Doch schon im Herbst vergangenen Jahres beginnen die ersten Komplikationen: Nachdem eine Studienteilnehmerin erkrankt, muss die klinische Prüfung unterbrochen werden. Dann können nicht genügend Daten zu älteren Probanden vorgelegt werden, weshalb der Impfstoff zunächst nur an Jüngere verimpft wird.
Verwirrung um Wirksamkeit
Unklarheit und Verwirrung herrschen von Beginn an auch beim Grad der Wirksamkeit: Während die Klassen-Primi Biontech/Pfizer und Moderna - beides mRNA Impfstoffe - locker auf über 90 Prozent kommen, können die Briten nur auf etwas über 60 Prozent verweisen - sofern man zwei volle Dosen verimpft. Verabreicht man hingegen bei der Erstimpfung nur eine halbe Dosis, gefolgt von einer vollen, würde man die 90 Prozent Marke auch knacken können, so der Hersteller. Die Verwirrspirale beginnt sich zu drehen.
Weiter angetrieben wird sie durch Meldungen über wiederkehrende Thrombosen, teils mit tödlichen Folgen. Mit Blick auf die gesamt verimpften Dosen, sind es nur wenige Fälle. Sie reichen aus, um Menschen wie Regierungen gleichermaßen zu verunsichern. Die Niederlande, Dänemark, Norwegen, Island, Bulgarien und Irland setzen die Impfungen aus. Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und weitere ziehen nach.
Die Europäische Arzneimittelagentur EMA tritt auf den Plan, prüft das Vakzin und gibt grünes Licht: Der Nutzen der Impfung würde das Risiko selten auftretender Blutgerinnsel deutlich übersteigen. Ärzte vieler Länder ziehen den Impfstoff wieder in die Impfspritzen und drücken ihn in die Oberarme der Bevölkerung. Andere, wie etwa Dänemark, verzichten gleich dauerhaft auf das Präparat.
Wenngleich es auch bei anderen Herstellern zu medizinischen Komplikationen kommt und Nebenwirkungen wie Thrombosen auftreten, ist der Schaden angerichtet: Astra Zeneca wird als minderwertig wahrgenommen. Quer über den Planeten sagen Menschen ihren Impftermin ab oder verweigern die Impfung, sofern sie erfahren mit Astra geimpft zu werden. Das führt zur pervers anmutenden Situation, dass etwa in Schweden hunderte Dosen täglich im Müll landen, während andere Länder händeringend nach Vakzinen suchen. Das schlechte Image kann auch mit einer Namensänderung - Ende März wird der Impfstoff auf Vaxzevria getauft - nicht mehr aufpoliert werden.
Lieferprobleme
Das liegt mitunter daran, dass auch auf der Lieferfront früh dunkle Wolken aufziehen. Noch bevor der Impfstoff in der EU überhaupt zugelassen wird, verkündet das Pharmaunternehmen eine Hiobsbotschaft: Man könne die zugesicherten Mengen nicht termingerecht liefern. 120 Millionen Dosen sollten laut Vertrag an die EU gehen. Astra reduziert erst auf 80 Millionen und dann nochmal: Anstatt 80 Millionen Dosen würden im ersten Quartal überhaupt nur 31 Millionen Impfdosen geliefert werden. Es gebe Probleme bei einem Werk in Belgien. Man werde aber das bestmögliche versuchen, eventuell doch mehr Impfstoff liefern zu können: 40 Millionen könnten sich vielleicht ausgehen.
Diese Willensbekundung ist der EU zu wenig, sie pocht auf Einhaltung der Verträge. "Mit öffentlichen Geldern haben wir dieses Risiko finanziert. Wir müssen deswegen wissen, was passiert ist“, meint etwa eine EU-Beamtin. Astra-Zeneca-Chef Pascal Soriot kontert kühl: Man habe nur eine "Best effort"-Vereinbarung mit der EU abgeschlossen. Ein wortreicher Streit mit nächtlichen Marathonsitzungen um die Auslegung der Vertragsklauseln folgt, der Vertrag wird öffentlich gemacht.
Anfang Februar führt die EU Exportkontrollen ein. Denn, dass der Impfstoffhersteller aus Werken in der EU Impfstoffe in großer Stückzahl nach etwa Großbritannien exportiert, gleichzeitig aber seine Lieferzusagen an die EU nicht einhalten kann, stößt Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sauer auf. Ihre Botschaft an Astra Zeneca: "Zuerst halten Sie Ihren Vertrag ein, bevor Sie exportieren."
Für das zweite Quartal droht sich die Geschichte zu wiederholen. 180 Millionen Impfdosen hat Astra Zeneca der EU vertraglich zugesichert. Doch Ende Februar wird zum ersten Mal bekannt, dass der britsch-schwedische Hersteller zwischen April bis Juni nur weniger als 90 Millionen Einheiten liefern könne – also gerade mal die Hälfte.
So erwägt die EU-Kommission Ende April, rechtliche Schritte gegen den Pharmakonzern einzuleiten. Es soll gesichert werden, dass der Hersteller die für das zweite Quartal vertraglich gesicherten Dosen diesmal auch wirklich liefere. Auch die meisten EU-Länder sprechen sich bei einem Botschaftertreffen für rechtliche Schritte aus.
Im selben Atemzug wird publik, dass die Europäische Union den Liefervertrag mit dem britisch-schwedischen Konzern unter Umständen nicht erneuern könnte. "Es ist noch nicht entschieden", sagte die französische Industrieministerin Agnes Pannier-Runacher damals.
Mittlerweile ist die Entscheidung gefallen.
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