Unterstützung für Kiew schwindet innerhalb der EU
Nur: Auch wenn nach außen hin alle Minister betonen, wie wichtig ein Sieg der Ukraine sei, und dass die EU bald von „Lissabon bis Luhansk“ reichen werde, wie Annalena Baerbock sagt – hinter den Kulissen im tiefsten Hotelkeller der Stadt knirscht es.
Nicht nur, dass wichtige Partner wie Polen fehlen (Zbigniew Rau ließ sich krankheitsbedingt entschuldigen, viele Beobachter sahen aber das Getreide-Zerwürfnis als Grund, der Ungar Peter Szijjarto kam gleich gar nicht), hat auch fast jeder Minister im eigenen Land mit schwindender Unterstützung der Bevölkerung zu tun.
Vielerorts – wie in Österreich – verschafft das moskautreuen Links- oder Rechtspopulisten Auftrieb; das erhöht den Druck vor allem dort, wo bald Wahlen anstehen.
EU-Forderungen nach Reformen - und Wahlen
Darum senden die Europäer heute auch Botschaften an die eigene Bevölkerung. Zum einen – Stichwort Lissabon bis Luhansk – erteilt man dem Wunsch Kiews, schnellstmöglich EU-Mitglied zu werden, eine freundliche Absage: Es werde wohl noch ein paar Jahre und vor allem viele Reformen brauchen.
Vor allem Berlin und Wien drängten darauf, dass „nichts übersprungen“ werden dürfe, und dass „Korruption Gift für den Wiederaufbau“ sei, wie Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) sagt. Dass gerade er so darauf drängt, hat auch mit einem Interview zu tun, das Premier Denys Schmyhal kürzlich gab.
Darin forderte er einen maximal zwei Jahre dauernden Beitrittsprozess, der mit der Vollmitgliedschaft enden müsse. Das ist ein Seitenhieb auf Wien: Schallenberg propagiert seit Langem die „graduelle Integration“, den schrittweisen Beitritt der Ukrainer.
Die Agrar-Supermacht würde demnach etwa bei der gemeinsamen Landwirtschaftspolitik außen vor gelassen werden, ebenso bei den Strukturförderungen, die den finanziellen Rahmen der EU sprengen würden.
Kein "Verschieben auf den Sankt-Nimmerleins-Tag"
Zwar nicht im offiziellen Gespräch, aber informell stellt Schallenberg Kiew auch eine andere Rute ins Fenster. Dass die Regierung plant, die Präsidentschaftswahl, die eigentlich für März 2024 anstehen würde, ausfallen zu lassen, will er so nicht hinnehmen: „Die Wahlen müssen stattfinden“, sagt er. Kiew müsse zumindest ein konkretes Datum nennen, ein schlichtes „nach dem Kriegsende wird gewählt“ reiche nicht aus: „Verschieben auf den Sankt-Nimmerleins-Tag geht nicht“.
Dass das aber nicht so einfach wird, hat Selenskij schon vor einiger Zeit wissen lassen – damals kamen ähnliche Wünsche aus den USA. Nicht nur, dass das Kriegsrecht einen Urnengang verbietet und daher geändert werden müsste, auch die Logistik ist ein irrsinniger Aufwand: Es ist völlig unklar, wie etwa Soldaten an der Front wählen sollen oder wie man westlichen Wahlbeobachtern Sicherheit garantieren kann – gar nicht zu reden von den Menschen in den besetzten Gebieten, denen ihr Stimmrecht genommen würde.
Ukrainer halten Wahlen während des Krieges für "Schwachsinn"
„Das ist eine absolut schwachsinnige Idee“, sagt auch Denis Trubetskoy, Innenpolitik-Journalist aus Kiew. „Die Forderung ist Populismus auf Kosten der Ukrainer.“ Die Befürchtung des Westens, dass Selenskij durch eine Verschiebung und die im Kriegsrecht begründete Konzentration der Medien der Demokratie schade, teilt er nicht.
Selenskij könnte, wenn die Wahlen regulär im März über die Bühne gehen würden, wohl ein historisches Ergebnis für sich verbuchen; aber frei und fair wäre das wohl nicht – das weiß man auch im Präsidialamt nur zu gut. „Außerdem brauchen wir das Geld für die Wahlen derzeit an der Front dringender“, sagt Trubetskoy.
Auch in der ukrainischen Zivilgesellschaft stoße die Forderung auf sehr wenig Zustimmung, sagt Trubetskoy, und selbst die Opposition ist zurückhaltend – derzeit ist auch kein Kandidat in Sicht, der es mit Selenskij irgendwie aufnehmen könnte.
Der Präsident selbst ist am Montag übrigens auch kurz zu Gast bei den Ministern, wie immer im schlichten T-Shirt mit der ukrainischen Flagge. Er hält sich zu all den Forderungen und Gegenforderungen aber vornehm zurück – wohl wissend, dass man sich wahrscheinlich bei allem irgendwo in der Mitte treffen wird. Wie immer.
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