Tiefe Krise in Weltpolitik nach möglichem Gasangriff in Syrien

US-Präsident Donald Trump (Mitte) lässt sich von seinem Militärstab zur Lage in Syrien beraten
Schlagabtausch zwischen den Weltmächten. Trump stellte Militäraktion in Raum, syrische Armee alarmbereit. UNO soll untersuchen.

Nach Angriffsdrohungen aus den USA sind die syrische Armee und ihre Verbündeten im Land in der Nacht auf Dienstag in volle Alarmbereitschaft versetzt worden. Mehrere Stützpunkte in verschiedenen Landesteilen seien zudem angesichts möglicher Angriffe vorsorglich geräumt worden, berichtete die in London ansässige, oppositionsnahe Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Nach Angaben von Aktivisten sollen bei dem mutmaßlichen Giftgaseinsatz auf die von Rebellen kontrollierte Stadt Duma in Ost-Ghouta am Samstag mehr als 150 Menschen getötet und rund 1.000 verletzt worden sein.

Die USA haben militärische Schritte gegen die syrische Regierung nicht ausgeschlossen. Präsident Donald Trump kündigte am Montag eine schnelle Entscheidung seiner Regierung an. Die USA und Verbündete machen die Regierung von Syriens Präsident Bashar al-Assad dafür verantwortlich. Auch der britische Außenminister Boris Johnson rief zu einer "starken und robusten internationalen Antwort" auf. In Berlin sagte der Sprecher der deutschen Regierung, Steffen Seibert, bei dem "Giftgaseinsatz deuten die Umstände auf die Verantwortlichkeit des Assad-Regimes hin".

Russland sprach am Dienstag der unabhängigen Chemiewaffenbehörde OPCW eine Einladung zur Untersuchung aus und gab eine Sicherheitsgarantie für Inspektoren, so diese benötigt werde. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel zeigte sich skeptisch hinsichtlich des russischen Vorschlags: "Ich glaube erstmal, dass die Evidenz, dass dort Chemiewaffen eingesetzt wurden, sehr sehr klar und sehr deutlich ist", sagte sie nach einem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko in Berlin. "Das kann auch meinetwegen noch mal nachgeprüft werden, aber das hilft uns bei der Verurteilung des Falles jetzt nicht weiter." Wie der Elysee-Palast mitteilte, bekräftigten auch Emanuel Macron, dass sie eine "starke Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf diese neuen Verstöße gegen das Chemiewaffenverbot" befürworteten.

Russland: Haben nichts gefunden

Der russische Außenminister Sergej Lawrow bezeichnete Berichte über einen syrischen Angriff mit Chemiewaffen hingegen als Provokation. Russische Militärspezialisten seien an Ort gewesen und hätten keinerlei Spuren von Chlorgas gefunden. Vorwürfe des Westens, Russland decke den syrischen Einsatz von Chemiewaffen gegen Zivilisten, bezeichnete der Minister als antirussische Kampagne. Auch der russische UNO-Botschafter Wassili Nebensja stellte die Echtheit des mutmaßlichen Angriffs infrage. Rebellen hätten den Angriff lediglich inszeniert.

Russland und die USA überzogen sich davor im Sicherheitsrat mit gegenseitigen Drohungen. Nebensja warnte, Russland werde einen westlichen Militärangriff in Syrien nicht dulden. Seine US-Amtskollegin Nikki Haley warnte, dass der Einsatz von Chemiewaffen zur Normalität werden könnte, und bezeichnete die für den mutmaßlichen Angriff Verantwortlichen als "Monster". Unabhängig von der Reaktion der Weltgemeinschaft würden die USA handeln. In Syrien müsse endlich Gerechtigkeit hergestellt werden. Frankreich beschuldigte ebenso wie die USA den Iran und Russland, Syrien bei den Angriffen unterstützt zu haben.

Der UNO-Sicherheitsrat beriet auf Antrag der USA, Frankreichs, Großbritanniens und sechs weiterer Länder über den mutmaßlichen Chemiewaffenangriff in der Rebellenhochburg Duma vom Samstagabend. Die USA stellten im Sicherheitsrat Pläne für einen Resolutionsentwurf vor, in dem ein neuer "unabhängiger Untersuchungsmechanismus der Vereinten Nationen" zu Chemiewaffeneinsätzen gefordert wird. Russland lehnte das Vorhaben umgehend ab. Der Entwurf enthalte "inakzeptable Elemente", welche diesen "schlimmer" machten als einen vorherigen Entwurf, sagte Nebensja. Inwiefern sich die spätere Einladung an das  von diesem Entwurf unterscheidet, ist vorerst unklar.

Den USA und deren Verbündeten Frankreich und Großbritannien warf Nebensja Versagen im Nahen Osten vor. "Was auch immer Sie angreifen, Sie hinterlassen nur Chaos", sagte er. Den Regierungen in Washington, Paris und London warf er "Beleidigungen, Erpressung, Sanktionen und flegelhaftes Verhalten" vor. Russland werde auf unentschuldbare Weise und noch stärker als zu Zeiten des Kalten Krieges bedroht. Die Berichte über den mutmaßlichen Giftgasangriff seien der Versuch des Westens, vom Fall des vergifteten russischen Doppelagenten Sergej Skripal abzulenken. Bewaffnete Angriffe "unter dem lügnerischen Vorwand, sich gegen Syrien zu richten", würden "schwere Folgen" haben. Moskau habe Washington gewarnt, dass es keine Gefährdung russischer Soldaten auf syrischem Boden dulden werde.

Haley demonstrierte Entschlossenheit: "Wir haben den Punkt erreicht, an dem die Welt sehen muss, dass in Syrien der Gerechtigkeit genüge getan wird", konterte sie. Russland und der Iran hätten Militärberater auf syrischen Stützpunkten, sagte Haley. "Wenn Syrien Zivilisten bombardiert, dann tut es das mit russischer Hilfe."

Russland rechnet nicht mit militärischer Konfrontation

Trotz der Drohungen der USA wegen des jüngsten mutmaßlichen Giftgasangriffs in Syrien sieht der russische Vize-Außenminister Michail Bogdanow keine Gefahr einer militärischen Konfrontation beider Atommächte. Die Nachrichtenagentur Tass zitierte den Minister am Dienstag mit den Worten, es gebe Kontakte auf Arbeitsebene zwischen Vertretern beider Mächte wegen Syrien. Er glaube, dass sich der gesunde Menschenverstand durchsetzen werde. Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow kritisierte, die Haltung des USA und anderen westlicher Staaten wegen des mutmaßlichen Giftgasangriffs sei nicht konstruktiv.

Auch der französische Botschafter bei der UNO, Francois Delattre, machte Syriens Verbündete für den mutmaßlichen Giftgasangriff mitverantwortlich. Russland und der Iran unterstützten Syrien militärisch, und "kein syrisches Flugzeug hebt ab, ohne dass sein russischer Verbündeter informiert ist", sagte Delattre. Während "eines zweiten Chemiewaffenangriffs in Duma" am Samstag seien zeitgleich russische Flugzeuge im Raum Damaskus im Einsatz gewesen, fügte der französische Diplomat hinzu.

Die USA und Frankreich haben in der Vergangenheit wiederholt gedroht, einen weiteren Einsatz von Chemiewaffen in Syrien nicht hinzunehmen. Trump hatte bereits vor einem Jahr als Vergeltung für einen tödlichen Chemiewaffenangriff in der Kleinstadt Khan Sheikhoun einen syrischen Luftwaffenstützpunkt bombardieren lassen.Die israelische Regierung sprach unterdessen von "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". "Der jüngste Fall der Anwendung von Gas beweist eindeutig, dass Syrien ungeachtet seiner Verpflichtungen weiter Chemiewaffen besitzt und sich sogar neue beschafft hat", erklärte ein Sprecher des israelischen Außenministeriums. "Der jüngste Angriff ist Teil einer ganzen Serie von Chemiewaffeneinsätzen durch das Regime." Er sei ein Verstoß gegen eine Zusage des syrischen Machthabers Assad an die internationale Gemeinschaft, solche Waffen nicht mehr einzusetzen. Es zeige "eindeutig, dass Syrien weiter über die Fähigkeit zum Einsatz tödlicher Chemiewaffen verfügt und diese sogar neu entwickelt".

Russland ruft Chemiewaffenexperten zu Untersuchung in Duma auf

Die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) kündigte am Montag eine Untersuchung an, um die Vorwürfe zu prüfen. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat die Forderung nach Ermittlungen zu den angeblichen Chemiewaffenangriffen nach dieser Ankündigung bekräftigt. Russland wolle im UNO-Sicherheitsrat einen Resolutionsentwurf einbringen, auf dessen Grundlage Experten der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) den Fall untersuchen sollen, sagte er am Dienstag in Moskau. Bisher habe Russland noch keine Antwort der OPCW auf eine Einladung nach Duma erhalten. "Wenn Sicherheitsgarantien für die OPCW-Inspektoren benötigt werden, wird es diese Garantien geben", sagte Lawrow der Agentur Tass zufolge.

Der UNO-Sonderbeauftragte Staffan de hat davor eine rasche und unabhängige Aufklärung des mutmaßlichen Giftgasangriffs im syrischen Duma gefordert. Giftgasangriffe seien "extrem besorgniserregend" und stellten einen Bruch internationalen Rechts dar, sagte De Mistura in einer Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrats zu Syrien am Montag. Er forderte den Rat zu raschem Handeln auf. "Wir sehen keine Deeskalation, wir sehen das Gegenteil", sagte De Mistura. Die Zivilisten im Land zahlten einen "hohen, hohen, hohen" Preis.

Die UNO-Mitarbeiter in Syrien können den Einsatz derzeit aber selbst nicht verifizieren. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden in den vergangenen Tagen in der Region zwar Menschen mit Atembeschwerden behandelt, die Ursachen seien aber noch nicht geklärt, sagte WHO-Sprecherin Fadela Chaib am Dienstag in Genf. Ob die gesundheitlichen Probleme durch chemische Waffen ausgelöst wurden, könnten die Mitarbeiter vor Ort nicht beurteilen. Auch Mitarbeiter des UNO-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) und das UNO-Nothilfebüro (OCHA) haben keine eigenen Erkenntnisse zu einem möglichen Giftgaseinsatz. Die UNO-Mitarbeiter seien selbst nicht in der betroffenen Region, betonte der OCHA-Sprecher Jens Laerke. Das Gebiet Ost-Ghouta sei nach wie vor belagert, UNO-Mitarbeiter hätten außer bei den selten erlaubten Konvois mit Hilfslieferungen keinen Zugang.

Explosion in Idlib

Bei einer Explosion in Idlib im Nordwesten Syriens sind am Montagabend nach Berichten von Aktivisten mindestens 19 Menschen ums Leben gekommen. Unter den Toten seien mindestens 13 Zivilisten, teilte die oppositionsnahe Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit. Die Zahl der Todesopfer könne weiter steigen, da Dutzende durch die Detonation verletzt worden seien. Unklar war, ob die Explosion, durch die ein Wohnhaus zum Einsturz gebracht wurde, auf eine Rakete oder einen Sprengsatz in einem Fahrzeug zurückzuführen war. Idlib steht unter der Kontrolle oppositioneller, islamistischer Gruppen.

SYRIA-CONFLICT

Erdogan verflucht Verantwortliche, Türkei will Afrin vorerst halten

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat angekündigt, dass die Verantwortlichen der "Massaker" an Zivilisten in der umkämpften syrischen Region Ost-Ghouta einen "hohen Preis" zahlen würden. "Ich verfluche jene, die dieses Massaker verübt haben", sagte Erdogan am Dienstag vor seiner Parlamentsfraktion in Ankara. "Wer immer dies getan hat, die Verantwortlichen werden zur Rechenschaft gezogen und einen hohen Preis zahlen", sagte Erdogan

Die Türkei will sich vorerst nicht aus der besetzten syrischen Region Afrin zurückziehen. Verteidigungsminister Nurettin Canikli sagte am Dienstag in Ankara, zunächst würden "alle terroristischen Bedrohungen" beseitigt. Afrin würde erst an die syrische Regierung übergeben werden, wenn eine neue Regierung gewählt und die "Terrorgefahr" in dem Gebiet gebannt wurde.

Mitte März hatten türkische Truppen nach einer zweimonatigen Offensive gegen die kurdische YPG-Miliz die nordsyrische Stadt Afrin eingenommen. Die Türkei betrachtet die YPG als verlängerten Arm der als Terrororganisation verbotenen PKK. Die Regierung in Ankara will nach eigenen Angaben verhindern, dass sich ein zusammenhängendes kurdisches Einflussgebiet vom Irak über Syrien bis in die Türkei bildet. In der 140 Kilometer entfernten Stadt Manbij kämpfen US-Soldaten Seite an Seite mit YPG-Angehörigen gegen die Islamisten-Miliz IS.

Kommentare