Ende des INF-Vertrags: "Europa erstes Zielgebiet bei Atomkrieg"

Mittelstreckenwaffen sollen Abschreckungspotenzial erhöhen - und Europa könnte erneut Zielgebiet eines Atomkonflikts werden.

Es ist ein historischer Schritt. Die USA kündigen einseitig den sogenannten INF-Vertrag auf - und werfen Russland vor, vertragsbrüchig geworden zu sein (mehr dazu hier). Hintergrund des Streits über das Verbot nuklearer Mittelstreckenwaffen dürfte der Ausbau des Abschreckungspotenzials sein. Das meinte der Wiener Politologe und Abrüstungsexperte Heinz Gärtner vor der Entscheidung der USA im Gespräch mit der APA. Seine Analyse: Europa könnte damit (wieder) Zielgebiet eines Atomkonflikts werden.

Die Vorwürfe der USA an Russland, dieses hätte das aus dem Kalten Krieg stammende Abkommen verletzt, sind daher nach Ansicht Gärtners letztlich „vorgeschobene Argumente, die Gründe liegen ganz woanders“. Eine Lösung für den derzeitigen Konflikt wäre nämlich mit einem „Update des Vertrags“ und besseren Verifikationsmaßnahmen genauso möglich gewesen, so der Experte vom Wiener International Institute for Peace (IIP).

"Little Boy"

Vielmehr geht es nach Ansicht Gärtners offenbar darum, die Abschreckungswirkung zu verstärken. Dazu müssten Nuklearwaffen zu Kriegsführungswaffen gemacht werden: „Beide Seiten gehen in ihren Doktrinen davon aus, dass Nuklearwaffen kleiner werden müssen, um die Glaubwürdigkeit der Abschreckung zu erhöhen.“ Mit „klein“ wäre in diesem Fall eine Bombe in der Stärke des 1945 gegen die japanische Stadt Hiroshima eingesetzten US-Sprengkörpers „Little Boy“ gemeint.

Notwendig für diese Strategie wäre die Stationierung und der mögliche Einsatz der Waffen in Gebieten, die fernab von den Zentren der USA liegen.

Das könnte daher erneut eine Stationierung in Europa bzw. in Ostasien bedeuten, wie zur Zeit des Kalten Krieges. „Die Konsequenzen können für Europa dramatisch sein. Da gibt es ein Deja-vu“, warnte Gärtner. „Wenn sich die Spannungen zwischen Russland und den USA bzw. Russland und der NATO verschärfen, gäbe es kein Problem mehr, diese Waffen wieder in Europa zu stationieren.“ Die Europäer könnten damit „zum ersten Zielgebiet“ eines möglichen Nuklearkonflikts werden.

Es geht um den Zweitschlag

„Die nukleare Abschreckung funktioniert ja so, dass man mit einem Zweitschlag droht. Das wäre damals (im Kalten Krieg, Anm.) gewesen: Sowjetunion - USA. Aber wenn man eine Zwischenebene einschaltet, sind die Großmächte fein raus. Sie sind nicht mehr erstes Zielgebiet, sondern das spielt sich auf dem Boden der Europäer ab. (...) Ich befürchte, dass (die Europäer) jetzt erneut spät draufkommen, dass sie wieder erstes Zielgebiet werden können.“

Gärtner erinnerte in diesem Zusammenhang an die Ursprünge des INF-Vertrages in dem NATO-Doppelbeschluss von 1979 und den darauffolgenden jahrelangen Auseinandersetzungen bezüglich der geplanten US-Raketenstationierungen in Westeuropa. Der Konflikt wurde letztlich 1987 durch den Vertrag über die Mittelstreckenraketensysteme (Intermediate Range Nuklear Forces, INF) zwischen dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan und dem sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow entschärft.

China verkompliziert die Lage

Das Abkommen setzt ein Verbot von landgestützten Nuklearraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern fest. „Es ist der einzige Rüstungskontrollvertrag in der Geschichte, der eine ganze Kategorie von Nuklearwaffen verbietet“, so Gärtner. Verkompliziert werde die Lage heute im Vergleich zum Kalten Krieg dadurch, dass mit China ein weiterer Faktor präsent sei: „Die Situation im Kalten Krieg war natürlich zweiseitig. Jetzt sind die Chinesen mit im Spiel. Damit wird das ein multipolares Abschreckungssystem, kein bipolares, was das Ganze noch unübersichtlicher macht.“

Nach Meinung Gärtners wollten die Europäer die Bedrohung für sich aber nicht sehen: „Die meisten geben sich damit zufrieden“, dass die künftig in Europa stationierten US-Flugkörper gegen China gerichtet seien, das ja nicht Teil des INF-Vertrages ist. Auch Russland sei „nicht so ganz abgeneigt“, als Abschreckung gegen China künftig Mittelstreckenraketen zu stationieren. Mittelstreckensysteme seien sogenannte „first use“-Waffen, erläutert der Politologe.

Sie müssten bei einer Bedrohung auf jeden Fall als Erstschlag eingesetzt werden, da sie bei einem zuvorkommenden Angriff des Gegners vernichtet würden: „'Use it or lose it' ist das Prinzip.“ Pekings Nukleararsenal besteht laut Gärtner zum Großteil aus Mittelstreckenwaffen, um einen Angriff etwa von See abzuwehren; das Land habe jedoch bisher auf eine „Minimalabschreckung“ gesetzt. „China hat immer eine 'non-first-use'-Politik betrieben“ und einen Erstschlag mit Nuklearwaffen ausgeschlossen, unterstrich Gärtner.

"Wechselseitig zugesicherte Zerstörung"

Doch wenn das Land bedroht würde, könnte sich Peking künftig gezwungen sehen, diese Politik aufzugeben, „weil sie dann befürchten müssen, dass ihr Nukleararsenal zerstört wird“. Dass US-Präsident Donald Trump auf das Verlassen des INF-Vertrages setzt, könnte auch im Zusammenhang mit der Überlegung stehen, dass man dann in einem künftigen möglichen neuen Wettrüsten „auf der unteren Ebene Antworten hat“, damit es nicht zu einer Eskalation und damit zu einer „'mutual assured destruction' (wechselseitig zugesicherte Zerstörung, Anm.) wie im Kalten Krieg“ kommt. „Die Mittelstreckenraketen können die USA nicht gefährden. Wohl aber die Interkontinentalraketen.“

Aus US-Sicht verstößt Russland mit den Tests eines Systems mit dem Namen 9M729 (NATO-Code: SSC-8) gegen das Abkommen. „Diese Vorwürfe gibt es seit einigen Jahren“, so Gärtner. Beweise dafür seien keine vorgelegt worden. Gärtner hält es im Übrigen durchaus für möglich, dass die USA auch die derzeit gültige Version des START-Abrüstungsvertrags (New START), der bis 2021 gilt, „mit ähnlichen Argumenten“ verlassen bzw. auslaufen lassen werden. Die START-Verträge schränken insbesondere die Zahl der nuklearen Interkontinentalraketen ein.

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