"Eine Schande, Menschen nach Libyen zu schicken"

Ein Boot der libyschen Küstenwache, das Migranten ans Festland bringt.
Helfer und Experten über die Zustände in libyschen Flüchtlingslagern und warum es Abkommen mit Westafrika braucht.

Vor ein paar Wochen noch stand er knöcheltief in Fäkalien, musste oft hilflos mitansehen, wie Frauen vergewaltigt und Männer sinnlos verprügelt wurden. Vor ein paar Wochen noch war der Arzt Tankred Stöbe für die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" in Flüchtlingslagern in Libyen – in jenen Lagern also, in denen viele EU-Politiker, darunter Österreichs Außenminister Sebastian Kurz, Flüchtlinge unterbringen wollen.

"Eine Schande, Menschen nach Libyen zu schicken"
Tankred Stöbe, Vorstandsvorsitzender der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen ACHTUNG: Kostenlose Verwendung nur nach Genehmigung durch und im Zusammenhang mit Berichterstattung über Ärzte ohne Grenzen und unter Nennung des Urhebers. Keine Archivierung, keine Weiterverbreitung. Foto: Barbara Sigge
Schließung der Mittelmeerroute lautet die Forderung: Die Boote sollten von Libyen gar nicht mehr ablegen, die Menschen, die auf dem Meer aufgegriffen werden, sollen umgehend wieder dorthin zurückgebracht werden. Für Stöbe, der den Horror der libyschen Lager selbst erlebt hat, ist das "eine Illusion und ein Verstoß gegen grundlegende Menschenrechte. Allein die Idee, Menschen nach Libyen zurückzuschicken, ist eine Schande. Da wird die wahre Situation ganz bewusst ignoriert."

"Nicht machbare Pläne"

Auch von den aktuellen Plänen, mit Hilfsgeldern, diese Lager rasch aufzurüsten, um die Menschen dann dort unterzubringen, hält der Arzt gar nichts: "In Libyen herrscht völliges Chaos, ich bin dort keiner einzigen vertrauenswürdigen politischen Gruppe begegnet." Es wäre unmöglich, auch nur grundlegende Sicherheit in den Lagern zu gewährleisten.

Europas Politiker würden ständig nur neue Kopien eines Planes herausposaunen, "der grundsätzlich nicht machbar und nicht verantwortbar ist". Nur um das Problem loszuwerden, würde man die Augen vor der Realität verschließen: "Viele der Flüchtlinge gehen allein deshalb aufs Meer, weil sie der Hölle in Libyen endlich entrinnen wollen." Ebenso illusorisch ist für Stöbe der Plan, mit der libyschen Küstenwache zusammenzuarbeiten, um die Boote der Schlepper zu stoppen. Der Arzt hat in seinen Einsätzen selbst die Bekanntschaft dieser Küstenwache gemacht, sein erschütterndes Resümee: "Das ist keine verlässliche Organisation. Dort herrschen Korruption und völlige Überforderung. Viele von denen arbeiten direkt mit den Schleppern zusammen."

"Eine Schande, Menschen nach Libyen zu schicken"
Gerald Knaus, ESI
Wie problematisch die Kooperation mit Libyen aus politischer Sicht ist, betont Gerald Knaus, Vorsitzender der Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative", der den EU-Türkei-Deal ausgehandelt hat. "Natürlich muss man Libyen stärken, aber als Ansprechpartner für Zusammenarbeit kommt es nicht in Frage. Die Flüchtlinge werden zurückgebracht, eingesperrt und probieren es noch einmal. Das wird den Zustrom nicht senken. Man muss mit den Herkunftsländern, den westafrikanischen Staaten verhandeln."

Denn sie sind auch die einzigen, die die Flüchtlinge wieder zurücknehmen könnten – alle anderen nordafrikanischen Länder würden sich weigern, erklärt Gerald Knaus. Doch zuvor braucht es ein faires und schnelles Asylverfahren in Europa, "alles andere ist ein Rechtsverstoß", sagt der Experte.

Hoffnung gibt es kaum. Die meisten Flüchtlinge aus Westafrika würden in Europa kein Asyl bekommen, das hält sie aber nicht von ihrem Vorhaben ab. Knaus glaubt zu wissen, warum: "Im Vorjahr kamen 39.000 aus Menschen aus Nigeria nach Italien, 165 wurden zurückgeschickt, das hat keine Wirkung."

Konkrete Abkommen mit Herkunftsländer

Wie bringt man die Heimatländer nun zur Zusammenarbeit? Kürzungen der Entwicklungshilfe- oder EU-Gelder bringen nichts, die Überweisungen der Diaspora sind viel höher, erklärt Knaus. Vielmehr braucht es konkrete Abkommen: "Die Länder bekommen einen Stichtag, der sie verpflichtet ab Tag X ihre Bürger, die kein Asyl in der EU erhalten, zurückzunehmen. Im Gegenzug bieten ihnen die EU-Länder reguläre Migration und eine jährliche Quote für dieses Land an."

Das würde aus seiner Sicht viele Probleme lösen. "Die Schlepper verlieren ihr Geschäft, es würden viel weniger Menschen sterben und es gäbe keine Unterklasse von abgelehnten Asylwerbern, die in Europa ausgebeutet werden."

Für wie realistisch hält er eine Umsetzung dieser oder ähnlicher Pläne? "Je schneller wir konkret werden – und etwa der Außenminister erklärt, wie und in welche Länder die Menschen zurückgebracht werden – ohne Rechte zu verletzen –, desto schneller haben wir eine Lösung."

Kommentare