Eine Reinigungskraft bringt SPD-Chef in Bedrängnis
Die Sozialdemokratie in Europa schlittert von einem Debakel zum nächsten, die Parteien verlieren massiv an Zustimmung und Einfluss, Politiker an Vertrauen. Auch wenn sie in einigen EU-Staaten noch in den Regierungen sitzen, die politische Hegemonie von früher haben Sozialdemokraten eingebüßt. Was läuft also falsch?
Susanne Neumann sitzt am Montagvormittag neben Sigmar Gabriel auf einer Bühne im Willy-Brandt-Haus. Seit einigen Wochen ist die Reinigungskraft aus Gelsenkirchen - "Putzfrau", wie sie selbst sagt - Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und soll nun mit dem SPD-Vorsitzenden über Gerechtigkeit diskutieren. Ein Thema, das der Partei wichtig ist. Es gibt ein Problem: Das Vertrauen der Wähler schwindet, in den Umfragen liegt die Partei nur noch bei 20 Prozent. Und das Gerücht, dass Sigmar Gabriel den Hut nehmen will, macht die Lage nicht gerade besser.
"Wir alle leiden unter den Folgen von Schröder", sagt Reinigungskraft und Neumitglied Neumann vor Publikum. Die umstrittene Agenda 2010 müsse zurückgedreht werden. Die Reform des Solzialsystems und Arbeitsmarktes kündigte der damalige SPD-Chef und Kanzler Gerhard Schröder mit den Worten "Wir werden Leistungen des Staates kürzen" an.
Gabriel verteidigt Regierungspolitik
Agenda 2010 habe mehr Ungerechtigkeiten geschaffen, erklärt Neumann, die auch als aktive Gewerkschafterin tätig ist. Junge Menschen, die heute zu arbeiten beginnen, bekämen nur noch befristete Arbeitsverträge. "Wer einen befristeten Arbeitsvertrag hat, bekommt keinen Mietvertrag. Der kriegt auch keinen kleinen Kredit, um seine Wohnung auszugestalten. Warum soll ich eine Partei wählen, die mir das eingebrockt hat und mir keine Antworten gibt?", fragt sie Gabriel.
Er zögert, antwortet aber dann in der Rolle des sozialdemokratischen Kandidaten im Wahlkampf: Man habe es doch eingesehen, sogar beschlossen, dass wir die "sachkundlose Befristung" abschaffen wollen. Das sei in der Regierung mit der Union aber nicht machbar. "Wir wollten es machen, haben den Fehler eingesehen, aber die Schwatten [CDU/CSU, Anm.] machen es nicht mit", erklärt 56-jährige Politiker.
"Warum bleibt ihr dann bei den Schwatten?", fragt Neumann. Das Publikum applaudiert und lacht. Gabriel, der seine Partei für zu "akademisiert" hält, kontert schlagfertig, in einer Mischung aus Nachdenklichkeit, Selbstkritik und Witz. Indem er Erfolge wie Mindestlohn und Rente mit 63 auflistet, verteidigt er die Kompromissfindungspolitik. Man habe einiges von der SPD-Politik gegen die Union durchgesetzt, meint er.
"Was habe ich denn falsch gemacht? Ich war nie faul, habe immer malocht."
Doch Neumann redet sich in Rage und berichtet von "meinen Jungs vom Bau", die nicht bis zum 67. Lebensjahr arbeiten könnten, und nennt die Höhe ihrer Rente: 725 Euro, nach 38 Jahren Putzen. Von dieser könne sie nicht leben. "Was habe ich denn falsch gemacht? Ich war nie faul, habe immer malocht." Und ergänzt: "Bei uns am Stammtisch sagen wir: 'Ihr habt uns runtergefahren'".
Gabriel fragt rhetorisch: "Was soll ich machen? Rausgehen aus der Koalition - und alles so beschissen lassen?" Die offenbarte Ratlosigkeit lässt Neumann ein wenig Demut gegenüber Gabriel zeigen: "Wenn 'ne Reinigungskraft dir sagen könnte, wie du es hinkriegst ..."
Gerechtigkeit zum SPD-Thema machen
Der SPD-Chef gibt offen zu, dass seine Partei einiges falsch gemacht hat. "Natürlich spüren wir den tiefen Vertrauensverlust", sagt er. Im Wahlkampf für die Bundestagswahl 2017 möchte er "Gerechtigkeit" wieder zum zentralen Thema machen. "Ich glaube, dass wir den Kampf um die demokratische Mitte neu aufnehmen müssen. Gerechtigkeit ist der Schlüssel beim Kampf um die demokratische Mitte."
Unbeantwortet bleibt allerdings die Frage, ob er selbst oder jemand anderes die SPD in diesen Wahlkampf führen wird. Im Oktober 2015 erklärte er noch, er möchte Kanzler werden, sofern ihn die SPD auch will. Die Entscheidung darüber, hat die Partei auf 2017 vertagt, weil nicht alle Genossen Gabriel als Spitzenkandidat sehen wollen und es bislang auch keine wirkliche Alternative gibt.
Auch Susanne Neumann muss er noch überzeugen. "Es braucht eine Partei, die die kleinen Menschen vertritt", sagt die Reinigungskraft aus Gelsenkirchen, "wenn die SPD weg ist, haben wir ja überhaupt nichts mehr."
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