SPD-Chef: Mindestbesteuerung in EU statt Vermögenssteuer

„Es muss doch endlich mal Schluss damit sein, dass wir den kleinen und mittleren Unternehmen die Steuern erhöhen, während die ganz großen sich davor drücken können“, sagt Gabriel.
Sigmar Gabriel hat von der SPD-Niederlage bei den Wahlen 2013 profitiert. Als SPD-Chef, Vizekanzler und Wirtschaftsminister agiert er wirtschaftsfreundlich, was in seiner Partei zu Debatten führt.

KURIER: Herr Vizekanzler Gabriel, die Volkswirtschaft der Eurozone ist heute kleiner als 2008. Wie kommen wir wieder zu mehr Arbeit und Wohlstand?

Sigmar Gabriel: Ja, wir brauchen mehr Wachstum. Ich wüsste nicht, wie wir sonst fünfzig Prozent Jugendarbeitslosigkeit in einigen europäischen Ländern bekämpfen sollen. Natürlich geht es nicht um irgendein Wachstum. Es macht keinen Sinn, neben zwei Autobahnen, die die europäische Union bereits bezahlt hat, eine dritte zu bauen, auf der dann keiner fährt. Es geht schon um die Frage, in welchen Bereichen wir Investitionen brauchen, um die Wettbewerbsfähigkeit in einer sich digitalisierenden globalen Ökonomie zu verbessern. Und deswegen würde ich zum Beispiel sagen, Investitionen in Breitband, in Digitalisierungsstrategien oder in Energieeffizienz, die Wachstum bringen, sind sinnvolle Investitionen. Die braucht Europa mehr denn je.

Wo kommt das Geld her?

Wir konservieren in der EU oftmals vorhandene Strukturen und tun viel zu wenig für die Zukunft. Zweitens gibt es in Europa sehr, sehr viel Geld, allerdings auf privaten Konten. Auch in Deutschland. Wir sind ein unfassbar reiches Land und kriegen trotzdem die deutsche Infrastruktur nicht vernünftig finanziert. Welche Instrumente lassen sich also finden, um privates Kapital auch für öffentliche Infrastruktur zu mobilisieren? In Deutschland sprechen wir beispielsweise über die Frage: Wollen wir nicht Lebensversicherungen und Pensionsfonds auch die Möglichkeiten geben, in Start-up-Unternehmen zu investieren, was sie heute nicht dürfen. Nicht unbegrenzt, um nicht zu hohe Risiken einzugehen, aber doch so, dass wir Venture-Capital für junge Unternehmen in der Wachstumsphase generieren.

Und was kann oder soll die Europäische Kommission tun?

Die Frage nach einem investitionsfreundlicheren Wettbewerbsrecht in Europa ist natürlich ein Appell an die Kommission. Die EU-Kommission redet sonntags gern von Re-Industriealisierung, was ein durchaus richtiges Ziel ist. Aber von Montag bis Samstag wird dann das Gegenteil gemacht, in dem neue Bürokratiemonster wie das "made in" Labeling erdacht werden oder eine noch nicht einmal richtig in Gang gesetzte scharfe CO2-Regulierung der Automobilindustrie bereits durch eine Debatte über noch schärfere Regulierungen überholt wird. Was wir dringend in der EU brauchen, ist mehr Gleichklang aller 28 Kommissare für gemeinsame Ziele. Und die Ziele müssen Wachstum und Re-Industriealisierung lauten. Denn wenn auf Dauer so viele Menschen ohne Arbeit und Einkommen bleiben, wird das Europa zerstören. Europa lebt nicht davon, dass sich die Finanzmärkte und Banken bei uns wohlfühlen, sondern nur wenn die Menschen das Versprechen auf Frieden und sozialen Wohlstand im Alltag auch erleben.

Also doch höhere Schulden?

Ich mach’ mal einen anderen Vorschlag: Wie wäre es denn, wenn wir mal aufhören würden, einen ruinösen Steuersenkungswettbewerb in Europa zu führen? Wie wäre es denn, wenn wir anfangen würden, Mindestbesteuerung einzuführen, damit nicht große Konzerne wie Google oder Amazon Milliarden in Europa verdienen, aber nur ein, zwei Prozent Steuern in Europa zahlen? Jeder Bäckermeister in Berlin zahlt höhere Steuersätze als diese Konzerne. Das ist nicht nur äußerst sozial ungerecht, es kostet Europa auch unglaublich viel Geld.

Und warum lassen sich die Europäer das gefallen?

Weil offensichtlich der kleine, nationale Vorteil eines einzelnen Mitgliedsstaates, in dem es extrem niedrige Unternehmenssteuern gibt, für manchen schwerer wiegt als das europäische Gesamtinteresse. Was wir erleben, ist doch, dass in Teilen Europas Konzerne angelockt werden, mit dem Hinweis darauf, bei uns musst du keine oder nur marginale Steuern zahlen.

Aber Herr Gabriel, das führt ja wirklich zur Frage, was kann Politik überhaupt noch? Sie selbst reden vom Einfluss großer US-Konzerne, von einflussreichen Lobbyisten

Das ist nicht die Frage von Können, das ist eine Frage von Wollen!

Warum wollen die Staaten der EU nicht?

Wegen des kleinlichen nationalen Vorteils, den sich einzelne Staaten erhoffen. Deshalb müssen wir die Bürgerinnen und Bürger Europas für eine faire Besteuerung gewinnen, um politische Mehrheiten zu schaffen.

Aber Konservative und Christdemokraten wollen doch, dass das Geld in Europa bleibt und nicht nach Amerika geht, das kann ja kein Unterschied zwischen rot und schwarz sein!

Ich wäre froh, wenn sie recht hätten. Der Unterschied zwischen uns Sozialdemokraten und den Konservativen und Neoliberalen liegt darin, dass sie in der Regel bei der Steuerpolitik wesentlich zurückhaltender sind. Die Tatsache, dass die Niederländer extrem niedrige Steuern haben, dass Irland extrem niedrige Steuern hat, führt aus Sicht von Konservativen und Neoliberalen zu einem wünschenswerten Steuersenkungswettbewerb nach unten. Mindestens führt es aus Sicht dieser Kräfte dazu, dass in den anderen Ländern die Steuern nicht steigen. Der Steuersenkungswettbewerb nach unten ist für die demokratische politische Rechte etwas Positives, weil es Ihnen hilft, Steuern in Ihrem eigenen Land nicht steigen zu lassen. Ich wäre auch nicht dafür, jetzt den vermutlich auch völlig untauglichen Versuch zu unternehmen, in Europa einheitliche Steuersätze einzuführen. Aber wir müssen uns erstens verständigen, was wir überhaupt besteuern, und zweitens müssen wir Minimalsteuersätze einführen.

Es ist aber interessant, dass das konservativ-liberal regierte Großbritannien deutlich höhere Vermögenssteuern hat, als das schwarz-rot regierte Deutschland zum Beispiel.

Ja, das ist aber nur ein Ausschnitt. Dafür gibt es andere Steuern und Sozialabgaben, die wir kennen, in viel geringerem Umfang. Ich nenne mal ein weiteres Beispiel: Sie werden sehen, dass die Sozialabgaben in Skandinavien geringer sind als in Deutschland. Das liegt aber daran, dass die sozialen Sicherungssysteme in Skandinavien über Steuern finanziert werden. Und sie haben extrem hohe Mehrwertsteuersätze – in anderen Ländern sind sie deutlich geringer. Sie können sich nicht immer eine Steuerart aussuchen, Sie müssen vielmehr schauen, wie die Gesamtbelastung von Steuern und Abgaben ist.

Schon, aber die Einkommenssteuern sind in Ländern, wo es Vermögenssteuern gibt, durchwegs geringer. Ist es nicht sinnvoll, wenn die Einkommenssteuern geringer sind, aber dafür Vermögen besteuert wird?

Auch da wäre ich mit solchen pauschalen Behauptungen vorsichtig. Oftmals sind die formalen Steuersätze in einigen Ländern hoch, aber die Möglichkeiten, sich davon befreien zu lassen, auch. Der Vergleich der Steuersysteme ist nicht ganz einfach. Und bei der Vermögenssteuer geht es vor allem um die Frage: Wie behandeln sie eigentlich Betriebsvermögen? Um nicht Gleiches ungleich zu behandeln, müssen Sie sowohl Geldvermögen besteuern als auch das Vermögen, das jemand in sein Unternehmen gesteckt hat her. Wenn ich aber das Betriebsvermögen besteuere, muss ich aufpassen, nicht Unternehmen zu beschädigen und noch in die Hände von Banken zu treiben, weil ich das Eigenkapital reduziere. Da hängen dann Arbeitsplätze dran. Es ist sehr schwierig und vermutlich unmöglich, eine realistische Unterscheidung zu finden, die vor der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit Bestand hätte. Eine Vermögenssteuer auf Betriebsvermögen würde ich auf keinen Fall mitmachen. Damit bestrafen wir steuerlich etwas, was wir volkswirtschaftlich brauchen: eine starke Eigenkapitalbasis der Unternehmen. Wenn jemand sein Geld im Unternehmen lässt, müssen wir ihn dafür belohnen und nicht bestrafen. Und das sage ich als jemand, der in der Vergangenheit sehr für Vermögensbesteuerung eingetreten ist.

In Deutschland zahlt man keine Erbschaftssteuer, wenn das Geld im Unternehmen verbleibt. Wenn man es rausnimmt, muss man es versteuern, dazu wird sich das Bundesverfassungsgericht ja äußern.

Ich kann nur hoffen, dass das Verfassungsgericht die geltende Regelung bestätigt, weil ich das für eine sehr intelligente Lösung halte. Lass das Geld im Betrieb, dann wirst du nicht besteuert. Ziehst du es raus und machst damit andere Dinge, wirst du steuerpflichtig. Das finde ich eine kluge Unterscheidung.

Könnte man das bei Vermögenssteuern nicht auch machen?

Da haben wir ja gerade ein Urteil kassiert, das genau dies abgelehnt hat. Deswegen glaube ich, dass wir – ich rede noch immer über Deutschland – da ganz schnell an die Grenzen der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit kommen. Ich würde gerne noch ein Argument dazunehmen: Was wir über eine Vermögenssteuer einnehmen könnten, ist fast schon eine homöopathische Dosis gegenüber dem, was wir durch einen Mindeststeuersatz und eine gemeinsame Bemessungsgrundlage in Europa bekommen würden. Noch einmal: Wir verlieren europaweit durch Steuerbetrug und legales Steuerdumping rund eine Billion. Das ist der wirklich dicke Fisch! Es muss doch endlich mal Schluss damit sein, dass wir den kleinen und mittleren Unternehmen die Steuern erhöhen, während die ganz großen sich davor drücken können.

Kommen wir zu Ihrem Einkommen, das Sie seit Jahren offenlegen, ohne dazu verpflichtet zu sein. Zuletzt waren das ungefähr 12.500,– Euro netto, pro Monat, 12-mal im Jahr. Das ist für einen Normalverdiener sehr viel Geld, für den Vorstand eines auch nur mittleren Unternehmens ist es wenig.

Ich lege mein Einkommen seit Jahren offen, weil ich mich einerseits dafür nicht schäme, andererseits jeder Bürger und jede Bürgerin das Recht hat, zu wissen, wie viel und woher ihre Volksvertreter ihr Geld bekommen. Aber natürlich haben Sie recht: für meine Mutter und meine Schwester, die beide im Krankenhaus gearbeitet haben, habe ich ein exorbitant hohes Gehalt. Für einen Abteilungsleiter eines großen deutschen Unternehmens, ist das gleiche Gehalt nicht besonders viel.

Thema Energiewende. Es sah so aus, als wäre die Atomgeschichte vorbei, und da fördert die EU wieder ein AKW, nämlich in Großbritannien.

Als mir früher Leute erzählt haben, überall auf der Welt würden Atomkraftwerke neu gebaut, habe ich immer gesagt: Seid ganz beruhigt. Die Atomenergie stirbt in Europa und in demokratischen Systemen schon deshalb aus, weil sie zu teuer ist. Jährlich werden in Europa mehr Atomkraftwerke geschlossen als neue gebaut. Und dort wo Atomkraftwerke gebaut werden, erfolgt das nur, wenn Steuergelder dafür eingesetzt werden. Und das finde ich dann schon einigermaßen skandalös. Marktwirtschaftlich hätte die Atomenergie nirgendwo eine Chance. Nur wenn der Staat sie subventioniert und am Ende alle Risiken trägt, ist Atomstrom bezahlbar. Und das ist völlig unnötig, denn es gibt ja Alternativen, die keinen radioaktiven Abfall produzieren. Wir haben in Europa nirgendwo funktionierende Endlager, die Atomenergie auszubauen ist so ein bisschen wie ein Flugzeug zu starten, ohne zu wissen, ob es irgendwo eine Landebahn gibt. Ich halte das für unverantwortlich, und das schafft auch keine Arbeitsplätze. In Deutschland hatten wir in Hochphasen rund 30.000 Beschäftigte in der Kernenergie. Wir haben jetzt im Bereich der Erneuerbaren schon 300.000.

Wie realistisch ist denn aus Ihrer Sicht diese schöne, fantastische Vorstellung, jedes Haus ist ein Kraftwerk, wir verbinden uns untereinander, die wunderbare digitale Vernetzung?

Natürlich wird es das geben, aber weder sofort noch sofort für alle. Natürlich sind Smart-Grids, Smart-Metering und Smart-Houses fantastische Möglichkeiten, die Energieeffizienz zu steigern. Die Energieeffizienz ist ohnehin der schlafende Riese der europäischen Energiepolitik. Allerdings fängt das nicht bei Hightech an, sondern mit was ganz Einfachem. Wir heizen in Deutschland bei Hunderttausenden Wohnungen im Winter mehr die Vorgärten als die Wohnzimmer, weil die schlecht isoliert sind. Das bestlaufende Konjunkturprogramm in der Krise war das zur Gebäudesanierung. Stellen Sie sich das einmal europaweit vor, wie viele Arbeitsplätze wir im Handwerk und in der Dämmstoffindustrie schaffen könnten. So stelle ich mir ein intelligentes Wachstumsprogramm vor. Einfach nur Geld irgendwo hineinschütten verbessert die Wettbewerbsfähigkeit Europas nicht. Energieverbrauch senken, Breitband ausbauen, in die Bildung investieren, jungen Leuten Aufstiegsmöglichkeiten bieten. Das sind Wachstumsinvestitionen, die die Wettbewerbsfähigkeit des Kontinents stärken.

Wir diskutieren in Österreich viel über Kinderbetreuung. Ist die Kindertagesstätte das beste, das aus der DDR gekommen ist?

Also ich war schon 1963 in einer Kindertagesstätte – ganz ohne DDR. Ich bin jetzt zum zweiten Mal Vater geworden. Und ich bin Beute-Ossi. Meine Frau kommt aus der Nähe von Halle, wir haben eine Zeit lang in Magdeburg gewohnt. Meine Frau ist selbstständige Zahnärztin. Ich habe auch einen Beruf, wo ich nicht jeden Tag zu Hause bin. Natürlich haben wir uns gefragt, wer unser Kind betreut, wenn wir beide arbeiten. Für meine Frau war selbstverständlich, dass die Kleine mit ein paar Monaten einen halben Tag in die Kita geht. Ich hatte von mir selbst das Bild eines aufgeklärten Menschen, aber trotzdem ist mir schnell klar geworden, dass ich eine westdeutsche Sozialisation habe. Ich hielt es keineswegs von Anfang an für selbstverständlich. Natürlich hat sich meine Frau durchgesetzt, ich kann heute nur sagen: Gott sei Dank. Unser Kind ist so aufgeschlossen, weil es von Anfang an mit anderen Kindern zusammen war. Jetzt weiß sie, dass es auch andere Kinder gibt, die gelegentlich mal Spielsachen haben wollen.

Die frühe Erfahrung, das Leben ist ein Kampf?

Es geht nicht um Kampf, sondern um die Erfahrung, dass man nicht allein auf der Welt ist und das Leben bunt ist. Wir haben heute keinen ideologischen Kampf in dieser Frage, sondern jeder kann das gestalten, wie er möchte.

Zurück zu Europa: Welche nächsten Schritte brauchen wir zur stärkeren Verschränkung Europas. Weniger Nationalstaat, mehr Europa, ein europäisches Heer?

Wir brauchen vor allen Dingen ein anderes Europa. Nicht mehr Europa, sondern ein anderes. In Europa haben wir fast keinen Ansatz für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Wir haben in Europa 28 befreundete Staaten, trotzdem haben wir 28 Heere, 28-mal eine Marine, 28-mal eine Luftwaffe. Ein Irrsinnsgeld, was wir dafür ausgeben.

SPD-Chef: Mindestbesteuerung in EU statt Vermögenssteuer
Sigmar Gabriel und Helmut Brandstätter in der Parlamentarischen Gesellschaft in Berlin.

SPD-Chef und Vizekanzler

Sigmar Gabriel, 55, ist seit 2009 SPD-Vorsitzender. Als Nachfolger von Gerhard Schröder wurde er 1999 Ministerpräsident von Niedersachsen, nach einer Wahlniederlage wechselte er in die Bundespolitik und wurde 2005 bis 2009 Umweltminister.

Bei der Bundestagswahl 2013 kam die SPD unter Peer Steinbrück nur 25,7 %. Gabriel führte die SPD in die Große Koalition mit Angela Merkel.

SPD-Chef: Mindestbesteuerung in EU statt Vermögenssteuer
So kann Europa gelingen_Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG

„So kann Europa gelingen“. Interviews mit W. Faymann, F. Mogherini und S. Gabriel. Artikel von JC Juncker, M. Fratzscher, P. Bofinger, J.Owens. Verlag Kremayr und Scheriau

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