Die Systemrelevanten
Zufall war das keiner, sind sich Beobachter sicher. Denn wer auch immer hinter den Attacken auf die reichen Vororte und drei Wohnhäuser im Süden steckt – Kiew dementiert jegliche Beteiligung, auch von den russischen Saboteursgruppen hat niemand die Anschläge für sich reklamiert –, die Absicht dahinter ist klar: Der Krieg soll nicht nur in die russische Gesellschaft getragen werden, sondern auch zu Putin und seinen Günstlingen. Jenen Menschen, deren Angst systemrelevant sein könnte.
Der Präsident selbst, sagen Insider zur kremlkritischen Moscow Times, sei zu dem Zeitpunkt tatsächlich in seinem feudalen Anwesen im Örtchen Nowo-Ogarjowo gewesen. Er sei am frühen Morgen von seinen Sicherheitsleuten wegen einer „Bedrohung aus der Luft“ geweckt worden, heißt es; die Drohne wurde etwa zehn Kilometer von einem extra für diese Fälle installierten Flugabwehrsystem aus der Luft geholt. Noch näher sind die Angreifer Putins Verteidigungsminister gekommen: Eine Drohne ging nämlich im kleinen Ort Barwicha nieder, wo das 18-Millionen-Euro-Anwesen von Sergej Schoigu liegt. Eine weitere landete abgeschossen im Greenfield-Komplex, einem streng bewachten Luxusareal, in dem Gazprom-Chef und Putin-Intimus Aleksej Miller wohnt; unweit davon haben Putins Kindheitsfreunde, die Milliardäre Boris und Arkadij Rotenberg, ihre Domizile.
Apathische Führung
In den kontrollierten russischen Medien war von all dem wenig zu lesen, auch Putin kommentierte die Attacken nur knapp: Geschehen sei ja eigentlich nichts, hieß es lapidar. Das ist durchaus irritierend: Mit den Angriffen auf die reichen Moskauer Vorstädte sei nämlich „ein völlig neues Level von Gefahr“ in Russland erreicht worden, so Kreml-Expertin Tatjana Stanowaja. Eine manifeste physische Bedrohung der Bevölkerung, das hat es in einem Jahr Krieg noch nicht gegeben. Ungewöhnlich für das zensurfreudige Russland war dabei auch, dass sich in den sozialen Medien die Beschwerden von Bürgern häuften. „Wie konnten die Drohnen uns erreichen? Arbeitet hier überhaupt jemand?“, hieß es etwa auf der völlig überladenen Social-Media-Seite des Gouverneurs von Moskau-Umgebung.
Dass Putin und seine Getreuen dennoch „apathisch“ reagieren, wie Stanowaja es nennt, habe mit sturer Obrigkeitshörigkeit zu tun. Wie schon zu Kriegsbeginn traue sich kaum jemand, Putin die reale Gefahrenlage zu melden – aus Angst, dann dafür als Sündenbock herhalten zu müssen.
Für die Ultranationalisten wie Wagner-Chef Jewgenij Prigoschin ist dieses Scheuklappen-System genau das Problem. Er wünschte in einer Video-Schimpftirade den Eliten der „Rubljowka“, die er schlicht „Abschaum“ nennt, nur eines: „Sollen eure Häuser doch brennen.“ Auch Stanowaja meint, dass die Kopf-in-den-Sand-Taktik Putin nicht helfen wird. „Die Menschen wollen starke Führung sehen. Jetzt sieht die aber zunehmend hilflos und konfus aus.“
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