Die USA im Glaubenskrieg

Platz 7: Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut in den Vereinigten Staaten von Amerika. So lässt sich auch trefflich über das "land of the free" diskutieren.
Gesundheitsreform: Die heutige Entscheidung des Höchstgerichts ist ein Urteil über Obamas größtes Projekt und damit über seine Politik.

Eigentlich meidet M­ichele Bachmann das verhasste Washington so oft und so lange sie nur kann. Diesmal aber verzichtete die rechtskonservative Republikanerin sogar auf ihren Sonntag daheim in Minnesota, nur um ja nichts zu verpassen. Seither ist die Kongressabgeordnete in Lauerstellung, harrt auf den Moment, an dem das Urteil – wie sie sagt – "über unsere Freiheit" fällt.

Gefällt wird dieses Urteil vom US-Höchstgericht. Heute, Donnerstag, sollen die neun, meist ziemlich betagten Herrschaften ihre Entscheidung bekannt geben, allerdings nicht über Freiheit, sondern über das mit Abstand meist umstrittene Gesetzespaket der bisherigen Präsidentschaft von Barack Obama: Die Gesundheitsreform. In ihrem Kern enthält die im März 2010 vom US-Kongress verabschiedete Reform (siehe rechts) eine verpflichtende Gesundheitsversicherung für alle US-Bürger. Ein Anliegen, an dem vor Obama schon mehrere US-Präsidenten gescheitert sind.

Flut an Klagen

Und genau dagegen laufen das rechte Amerika und seine Wortführer wie Bachmann auch jetzt wieder Sturm. Für sie widerspricht eine verpflichtende Krankenversicherung dem Grundsatz der persönlichen Freiheit. Der Kongress, so ihr Argument, habe kein Recht, diese zu beschränken.

Überall im Land haben republikanische Politiker den Kampf gegen die Gesundheitsreform zu ihrem politischen Kernanliegen gemacht. " Obamacare" wird das Gesetzespaket meist genannt, schließlich will man nicht nur dieses, sondern vor allem seinen Erfinder zu Fall bringen.

In 26 Bundesstaaten sind Klagen gegen die Reform eingebracht worden. Das Ergebnis, ein juristischer Grabenkrieg, der schließlich vor dem Höchstgericht landete.

Längst geht es in der aufgeheizten Debatte nicht mehr um die Details der Reform, von denen einige inzwischen schon in Kraft und überaus populär sind, sondern um einen Glaubenskrieg. Und in den sind auch die Höchstrichter längst verwickelt. So machte einer von ihnen, der deklariert rechtskonservative Antonin Scalia, Schlagzeilen, als er die Gesundheitsreform mit dem Essen von Broccoli verglicht. Schließlich sei das auch gesund, und daher könne man es ja ebenso gut den Amerikanern vorschreiben. Bemerkungen wie diese heizen wiederum im gegnerischen Lager, bei den Demokraten, die Stimmung auf. Dort sieht man das mehrheitlich von Republikanern besetzte Höchstgericht ohnehin als parteiisch an und unterstellt ihm politisch motivierte Entscheidungen.

Wahlkampf

Ob korrekt oder nicht, Politik wird diese brisanteste Entscheidung seit Jahrzehnten auf jeden Fall machen. Sie gilt schon jetzt als das heißeste Eisen im laufenden Wahlkampf – und die Spekulation darüber, welcher der beiden Kandidaten es besser schmiedet, laufen seit Wochen. Denn auch für den Republikaner Mitt Romney hat die Sache einen Haken. Hatte er doch als Gouverneur von Massachusetts 2006 eine ähnliche Gesundheitsreform durchgesetzt.

Unter dem Druck des rechen Parteiflügels könnte Romney also versuchen, noch härter auf Präsident Obama persönlich einzuschlagen. Sachfragen aber haben beim Streit um die Gesundheitsreform von Anfang an kaum eine Rolle gespielt. Wenn die Mehrheit der Amerikaner derzeit laut Umfragen für ihre Abschaffung eintrete, analysiert ein Kommentator der Wochenzeitung Newsweek, "dann, weil sie so kompliziert ist." Jedes Argument für die Reform müsse in vielen Sätzen erklärt werden, um es zu widerlegen, reiche eine Lüge in einem Satz. Es gehe vor allem um eines: "Allgemeiner Widerstand gegen diesen Präsidenten."

Szenario 1: Nein zur Reform - Etappensieg im Krieg gegen den Präsidenten

Die USA im Glaubenskrieg

Lehnt das neunköpfige amerikanische Höchstgericht Barack Obamas Gesundheitsreform als "nicht verfassungskonform" ab, hätte dies schwerwiegende Folgen für die Politik, aber auch für die Bevölkerung des Landes: Das Urteil würde den Republikanern schwere Munition im Wahlkampf gegen den demokratischen Präsidenten liefern. Politiker und konservative Medien würden Obama als "Verfassungsbrecher" attackieren – in den USA, wo die Verfassung als eine Art nationales Heiligtum angesehen wird, ein fataler Vorwurf.

Zudem würde die in sich zwischen moderaten und extrem konservativen Republikanern zerstrittene Partei durch das Urteil massiv gestärkt. Kaum ein Thema hat Amerikas Konservative im Kampf gegen die Demokraten so zusammengeschweißt wie ihr Kreuzzug gegen "Obamacare". Ihr Vorwurf: Eine obligatorische Krankenkasse für alle Amerikaner sei ein Eingriff in die individuelle Freiheit des Bürgers – vergleichbar mit einem staatlich vorgeschriebenen Zwang, täglich Salat essen zu müssen.

Doch ein K.O. für Obamas Prestigeprojekt birgt auch für die Republikaner Risken: Drei Teile der 2700 Seiten umfassenden Reform sind bereits in Kraft – und allesamt extrem populär. Dazu zählt etwa die Möglichkeit, Jugendliche bis 26 Jahre bei den Eltern mitzuversichern. 85 Prozent der US-Bürger wollen diese Maßnahme laut Umfragen unbedingt beibehalten.

Dies aber ist nach dem Supreme-Court-Spruch fraglich. Wird "Obamacare" nun vollends gekippt, wie es die Republikaner versprochen haben, oder können die populären Teile des Gesetzes bestehen bleiben? Letzteres könnte die Grand Old Party ihren Wählern wiederum nur schwer erklären.

Szenario 2: Ja zur Reform - Gewaltiger Schub für den Wahlkämpfer Obama

Die USA im Glaubenskrieg

Für Präsident Barack Obama könnte es im laufenden Wahlkampf keinen größeren Triumph geben: Bestätigt das Höchstgericht, dass seine Gesundheitsreform in Einklang mit der amerikanischen Verfassung steht, hätte er seine republikanischen Gegner nach allen Regeln der politischen Kunst besiegt. Seinen Wahlsieg im Herbst könnte vermutlich nur noch ein plötzlicher Absturz der amerikanischen Wirtschaft gefährden.

Gegen den Totalwiderstand der Republikaner hatte Obama 2010 die größte Gesundheitsreform des Landes seit Jahrzehnten durch den Kongress geboxt. Und das Herzstück seiner bisherigen Amtszeit hatte so viel Bestand, die Klagen von 26 US-Bundesstaaten und eine Überprüfung durch den Supreme Court zu überstehen.

Für Amerikas Bürger bedeutet dies: Niemand wird in Zukunft mehr ohne Krankenversicherung sein. Jeder Amerikaner ist fortan verpflichtet, sich zu versichern, obwohl das die Mehrheit der Bevölkerung noch als einen "Eingriff des Staats in die persönliche Freiheit" klar ablehnt.

Doch der Wind kann schnell drehen, wie sich in Massachusetts zeigt: Dort hatte ausgerechnet der damalige republikanische Gouverneur Mitt Romney die obligatorische Krankenversicherung eingeführt – die heute 62 Prozent der Bewohner des Bundesstaates befürworten. Der heutige Präsidentschaftskandidat Romney hingegen möchte davon am liebsten gar nichts mehr hören.

Für seinen Wahlkampf und die Republikaner insgesamt wäre ein Ja des Supreme Courts zu Obamacare verheerend: Im Kampf gegen die Gesundheitsreform hätten sie alles auf ein Pferd gesetzt – und verloren.

Obamacare: Die wichtigsten Punkte

30 Millionen Amerikaner, die bisher keine Krankenversicherung hatten, sollen durch die Gesundheitsreform eine Krankenversicherung bekommen.

Versicherungspflicht Jeder Amerikaner soll verpflichtend krankenversichert sein. Das geschieht einerseits durch eine Ausweitung der bisher auf die sozial schwächsten Bürger beschränkten staatlichen Versicherung Medicaid, andererseits durch staatliche Unterstützung für einkommensschwache Bürger, die sich privat versichern.

Deckung Jeder einzelne Bundesstaat kann regeln, welche Behandlungen durch die Versicherung gedeckt sein müssen. Es gibt allerdings "10 grundlegende Gesundheitsleistungen", die überall in den USA inkludiert sein müssen, etwa Geburtshilfe und psychiatrische Behandlung.

Kosten Die Gesundheitsreform soll in den nächsten zehn Jahren eine Billion Dollar kosten. Eine Expertenkommission soll jede neue Behandlungsmethode überprüfen. Nur wenn diese wirksam ist, soll sie bezahlt werden .

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