Kosovo ist jung, Kosovo ist vernetzt. Kaum ein anderes europäisches Land hat eine so gute Netzabdeckung wie dieses. Und wer hier in Prishtina die WLAN-Funktion seines Smartphones öffnet, findet fast überall mindestens zehn Anbieter. Im weltweiten Netz kennen sich die jungen Kosovaren aus. Doch reisen können sie nur in wenige Länder. Die EU hat in den vergangenen elf Jahren allen Nachbarstaaten die Visafreiheit zugestanden – nur dem Kosovo nicht.
Aus Mangel an Destinationen bleibt oft der einzige Zufluchtsort das Internet. Da sind sie zuhause. Die jungen Menschen pflegen ihre Instagram- und Facebook-Profile wie kaum andere. „Die jungen Kosovaren sind so europäisch und dennoch hier eingesperrt“, sagt Naki Halimi aus Prishtina. Sie können gut Englisch und die meisten noch eine andere europäische Sprache. Sie sind angezogen wie junge Menschen in Österreich, hören dieselbe Musik, sind Anhänger derselben Sportteams, verwenden dieselben Geräte. „Das Internet hat vieles geöffnet“, sagt Halimi.
Der Bass tönt laut durch die Wohnsiedlung am Rande Prishtinas. Rund 200 vor allem junge Menschen kauern auf Sitzpölstern vor einer Bühne in der untergehenden Sonne. Die „DokuTech“ geht langsam zu Ende: eine Veranstaltung, bei der Vertreter aus der Tech- oder IT-Branche aus aller Welt über neue Entwicklungen berichten. Der Veranstalter, Kushtrim Xhakli, lebt nicht mehr in Prishtina. Doch er will seinen Landsleuten etwas zurückgeben. „Die Menschen hier können nicht weg – dann bringen wir eben die Welt zu ihnen“, sagt Xhakli.
Die Jungen wollen nach Deutschland, in die Schweiz, nach Österreich oder Skandinavien. Mehr als 30.000 Kosovaren warten derzeit auf Arbeitsvisa für Deutschland. Der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn hat kürzlich um Pflegekräfte aus dem Kosovo geworben. 1.000 pro Jahr sollen von hier in die Bundesrepublik geholt werden. In Österreich haben im Vorjahr weniger als 800 Kosovaren ein Arbeitsvisum erhalten, fast alle von ihnen für Saisonarbeit.
In Österreich haben im Vorjahr knapp 800 Kosovaren Arbeitsvisa erhalten. Fast alle von ihnen für Saisonarbeit. Es leben derzeit laut Schätzungen der Kosovarischen Botschaft rund 50.000 Kosovaren hier.
Anfang 2015 startete ein regelrechter Exodus aus dem jungen Balkanstaat. Die Asylanträge in Europa – auch in Österreich – schnellten plötzlich nach oben. Mehr als 70.000 Menschen hatten das Land in nur wenigen Wochen verlassen und nutzten die Fluchtrouten über den Balkan. Dann zog die Politik die Reißleine: Mehrere EU-Staaten stuften den Kosovo als sicheren Drittstaat ein. Die Wanderbewegung wurde eingebremst.
Ein Großteil der damals Geflüchteten ist heute gar nicht mehr in der EU. Viele sind zurück im Kosovo. Auch hier in Prishtina finden sich etliche junge Menschen, die es schon einmal in Europa versucht haben, aber schließlich wieder zu Hause gelandet sind. Freiwillig oder unfreiwillig.
"Scheiße gebaut"
Etwa auch Enis. Er habe „Scheiße gebaut“, sagt der Kosovo-Albaner in breitem Schwytzerdütsch. In den nächsten Jahren darf er nicht mehr in die Schweiz, wo er jahrelang gearbeitet hat. Das sei zwar nicht ideal, aber Enis scheint es nicht schlecht zu gehen – auch dank seiner Verwandten, die jeden Monat Geld an die Familie schicken. Nach Regierungsangaben sind die Überweisungen durch Kosovaren aus dem Ausland höher als die hier erwirtschafteten Werte. Gut eine Milliarde Euro kommt jedes Jahr in Form von Überweisungen aus dem Ausland.
Wie so viele junge Kosovaren und Kosovarinnen schwärmt Enis an diesem Abend durch die holprigen Straßen der Hauptstadt der jungen Republik. Jeder zweite von ihnen ist arbeitslos, das sagt zumindest die Statistik, die 50 Prozent der unter 35-Jährigen als Arbeitslose anführt. Ganz so schlimm dürfte es nicht sein, denn offiziell haben auch Enis und seine Freunde keinen Job. Inoffiziell schon. „Schwarz ist besser“, sagt sein Freund und schmunzelt. „Wofür sollte ich Abgaben zahlen? Ich bekomme ja doch nichts dafür!“ Weder das Bildungssystem, noch die Spitäler seien in einem Zustand, wofür sich Steuerzahlen lohne.
Zwar hat die Wirtschaft Kosovos ein relativ stabiles Wachstum von vier Prozent, doch der Durchschnittslohn und die Beschäftigung sind weit unter dem EU-Niveau. Ein Bauarbeiter verdiene rund 400 Euro, rechnet der Parlamentspräsident Kadri Veseli vor und vergleicht mit dem aufgeblähten Verwaltungssektor. Die Parlamentarier erhalten fünfmal so viel. „Jedes Jahr wirbt uns die EU bis zu 50.000 unserer fähigen Arbeiter ab“, kritisiert der Parlamentspräsident. Das sei unfair, denn die anderen dürfen nicht einmal reisen.
Besnik Leka ist sich sicher, dass die lang versprochene EU-Visafreiheit für Kosovaren nicht für eine Massenausreise in den Norden sorgen würde. Der Sozialarbeiter arbeitet mit jungen Männern und Lehrpersonal. Er erlebt täglich, wie diskriminiert sich viele Menschen hier fühlen, weil sie – im Gegensatz zu ihren Nachbarn – nicht reisen dürfen. „Wir sind das einzige Land der Region, das ohne EU-Visafreiheit ist – und noch dazu das kleinste. Wie kann es nur sein, dass sie vor dem letzten Puzzlestein Halt machen?“
Der Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger nennt die nicht erteilte Visafreiheit in seinem aktuellen Buch über den Kosovo eine „permanente Erniedrigung“ für junge Kosovaren und Kosovarinnen. „Wenn du vor der Botschaft stehst und mit Hunderten anderen auf dein Visum wartest – das ist eine Demütigung“, sagt Halimi. „Als ich mich das letzte Mal beworben habe, war ich den Tränen nahe.“
Schmidinger warnt gleichsam davor, dass sich die Jugend in andere Richtungen orientiert. Eines der wenigen Länder, in die Menschen aus dem Kosovo visafrei reisen dürfen ist die Türkei.
Visapflicht
Im Gegensatz zu Serben, Mazedoniern, Montenegrinern, Albanern und Bosniern benötigen Kosovaren Visa für Reisen in die EU. Die Kriterien sind streng, die Wartezeiten lang. Viele der Bewerber werden abgelehnt.
Jüngste Bevölkerung
Von den 1,8 Millionen Einwohnern ist etwa die Hälfte unter 35 Jahre alt. Der Kosovo ist das Land mit der jüngsten Bevölkerung Europas.
Wenig Arbeit
Die Arbeitslosenrate liegt bei rund 30 Prozent. Unter Jungen beträgt sie ca. 50 Prozent. Das Wirtschaftswachstum ist relativ stabil bei rund vier Prozent, dennoch ist der Durchschnittslohn bei ca. 530 Euro weit unter EU-Niveau.
Geld aus dem Ausland
Viele Menschen leben von Überweisungen aus dem Ausland. Wirtschaftsinstitute schätzen sie auf rund eine Milliarde Euro.
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