Alltag unter Bomben: "Die Hälfte unserer Einwohner ist geflüchtet"

Alltag unter Bomben: "Die Hälfte unserer Einwohner ist geflüchtet"
Der Bürgermeister von Mykolajiw im KURIER über den Alltag der Stadt zwischen russischen Angriffen und Fluchtwellen.

Fast drei Monate dauert der Krieg in der Ukraine bereits. Die Tage aber, an denen seine Stadt nicht bombardiert wurde, „die kann ich immer noch an einer Hand abzählen“, erzählt Oleksandr Senkevych dem KURIER im Videointerview: „Gerade erst haben sie ein Sportzentrum und einen Markt getroffen... und in den Gassen rundherum sind alle Fensterscheiben zerstört.“ Auch die eigentlich international geächteten Cluster-Bomben würden die Russen einsetzen, behauptet der Bürgermeister.

"Ich höre die Streumunition"

Jene Streumunition also, die vor dem Aufprall Hunderte kleine Sprengkörper freisetzt und damit umso großflächigere Zerstörungen anrichtet: „Ich kann diese Dinger inzwischen am Klang der Explosion erkennen und natürlich an den leeren Geschoßen, die überall in der Stadt herumliegen.“ Zeit, sich gegen die Luftangriffe zu verteidigen, hat man in Mykolajiw nicht: „Die Russen schießen ihre Raketen aus dem nahe gelegenen Cherson. Die haben gerade drei Minuten Flugzeit.“ Mehr als 100 zivile Tote hat die Stadt inzwischen zu beklagen: „Die meisten davon sind Frauen. Angestellte in den Büros, die die Bomben erwischt haben.“

Alltag unter Bomben: "Die Hälfte unserer Einwohner ist geflüchtet"

Bürgermeister Senkevych

Wasser nur aus Flaschen

Das größte Problem der Hafenstadt in der Südukraine ist derzeit die Wasserversorgung. Die Russen haben die städtische Leitung, die das Wasser aus dem Fluss Dnjepr bringt, zerstört: „Seither stehen die Menschen täglich mit ihren Plastikflaschen Schlange vor den Lkw, mit denen wir Wasser in die Stadt bringen.“ Zumindest das Problem mit dem Wasser für Duschen und Waschmaschinen hat man gelöst. Eine improvisierte Leitung holt das Wasser aus einem kleineren Fluss. Das ist zwar schmutzig, „aber wir geben halt die zehnfache Menge Chlor rein. Zum Waschen ist das gut genug.“

Flucht mit dem Linienbus

Dass sich der Wasserverbrauch ohnehin drastisch verringert hat, liegt nicht nur an den Mühen, sauberes Wasser zu bekommen, sondern schlicht daran, dass so viele Bürger einfach nicht mehr da sind. Eine halbe Million Einwohner hatte die Stadt vor dem Krieg. Die Hälfte ist inzwischen geflüchtet. „Die meisten sind zuerst nach Odessa geflohen – und von dort weiter, nach Lviv (Lemberg) oder ins Ausland.“

Als Bürgermeister hat sich Senkevych auch darum gekümmert. Städtische Busse haben die Menschen, statt wie sonst zur Arbeit oder in die Schule, aus der Stadt gebracht: „Abholen aber“, scherzt der 40-Jährige, „können wir sie nach dem Krieg leider nicht“.

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