Die Flüchtlingskrisen, über die wir zu wenig sprechen
Es gibt schlimme Krisen auf dieser Welt, von denen hört man zurecht regelmäßig und viel. Und dann gibt es andere, die nicht weniger schlimm sind, über die aber sehr wenig geredet, geschrieben und gesendet wird. Ein neuer Bericht der "Norwegischen Flüchtlingshilfe" (NRC) ging der Frage nach warum das so ist und welche Krisen das sind.
"Bei manchen Orten ist dies der mangelnden geopolitischen Bedeutung geschuldet, während es bei anderen zu viele Parteien und Akteure mit widersprüchlichen Interessen gibt, und dabei zu wenige, die bereit sind, die Interessen der Zivilbevölkerung zu schützen", mutmaßt Jan Egeland, der Generalsekretär der NRC, über die Gründe.
Meist Nachbarländer betroffen
Das Desinteresse mag auch daran liegen, dass die Auswirkungen der Krisen die Industrieländer kaum erreichen. 80 Prozent der Flüchtlinge auf dieser Welt sind in Staaten untergekommen, die selbst arm oder allenfalls Schwellenland sind. Sechs der zehn Krisen, die Menschenmassen in die Flucht schlagen und von Politik, Medien und Öffentlichkeit am schwersten vernachlässigt werden, liegen in Sub-Sahara-Afrika. Die Flüchtlinge dieser Konflikte kommen in ihre Nachbarländer, die selbst oft genug Probleme haben und dadurch weiter destabilisiert werden.
Das Problem daran, dass wir zu wenig darüber sprechen ist, abgesehen vom menschlichen Leid: Fehlt die Aufmerksamkeit, wird weniger Geld zur Verfügung gestellt und weniger politisches Kapital in die Lösung investiert.
Das NRC hat in seinem Bericht die Anzahl der vertriebenen Menschen der Medienaufmerksamkeit, den Hilfsgeldern und dem politischen Hilfswillen zu einem Index kombiniert. Aus den 24 untersuchten, größten Krisen wurden so die zehn gereiht, die am schlimmsten unterschätzt werden.
In der mittlerweile dritten Ausgabe des Berichts hat dabei ein neuer Konflikt die traurige Spitze erklommen. Der bisherige "Spitzenreiter" war die Tragödie in der Zentralafrikanischen Republik. Diese Krise sei zwar selbst schlimmer geworden, sagt Egeland, leider hätte sich die Situation in zwei anderen Ländern aber dramatisch verschärft, dass die ZAR diesmal trotzdem nur auf Rang drei gereiht werden musste.
Das NRC-Ranking im Detail:
10. Nigeria
Das Ausmaß: 1,9 Millionen Vertriebene, davon 200.000 ins Ausland.
Der Konflikt in Kürze: Regierung und extremistisch-islamistische Terrorgruppen rund um "Boko Haram" liefern sich seit Jahren einen Konflikt um die Vorherrschaft vor allem im Nordosten des Landes.
Im Bild: Eine Frau steht im Sommer 2017 in einer Regenlacke im Flüchtlingslager Rann, das die nigerianische Armee einige Monate davor irrtümlich für ein Boko Haram-Camp hielt und bombardierte.
Diesen Teil der benötigten Hilfsmittel bringt die Weltgemeinschaft auf: 68%
9. Venezuela
Das Ausmaß: 1,6 Millionen Flüchtlinge im Ausland. Unbekannt viele Vertriebene im Inland.
Der Konflikt in Kürze: Eine einbrechende Wirtschaft, explodierende Kriminalitätsraten und ein gewalttätiger Konflikt zwischen Regierung und Opposition treiben Menschen in die Flucht.
Im Bild: Ein Kind aus Venezuela weint in einer Flüchtlingsunterkunft in Brasilien.
Diesen Teil der benötigten Hilfsmittel bringt die Weltgemeinschaft auf: Es gibt keinen Aufruf.
8. Jemen
Das Ausmaß: Über 2 Millionen Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben.
Der Konflikt in Kürze: Seit drei Jahren tobt ein Krieg zwischen Regierung und den schiitischen Huthi-Rebellen, der auch als Stellvertreterkonflikt zwischen Saudi Arabien und dem Iran gedeutet werden kann.
Im Bild: Vertriebene Kinder in einer Schule innerhalb eines Flüchtlingslagers zwischen Marib und Sanaa.
Diesen Teil der benötigten Hilfsmittel bringt die Weltgemeinschaft auf: 76%
7. Myanmar
Das Ausmaß: Über eine Million Menschen sind nis benachbarte Bangladesch geflohen.
Der Konflikt in Kürze: Die Regierung verfolgt und unterdrückt die Rohingya seit Jahrzehnten. Nach Anschlägen kam es 2017 zu einer weiteren Eskalation des Konflikts mit ethnischen Säuberungen und massiver Gewalt durch die Armee. Über eine Rücknahme der Flüchtlinge wird verhandelt.
Im Bild: Flüchtlinge tragen 2017 eine Frau über den Fluß Naf beim Versuch nach Myanmar zu gelangen.
Diesen Teil der benötigten Hilfsmittel bringt die Weltgemeinschaft auf: 77%
6. Palästina
Das Ausmaß: Über fünf Millionen Palästinenser sind als Flüchtlinge registriert.
Der Konflikt: Unter anderem im Israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948, dem Sechstagekrieg 1967 oder bei der Vertreibung von Palästinensern aus Kuwait (1991) mussten Palästinenser fliehen. 1,5 Millionen leben in Flüchtlingslagern im Nahen Osten andere als Staatenlose in der Region.
Im Bild: Palästinensische Frauen 2017 bei der Trauerfeier für einen bei einer Razzia durch israelische Sicherheitskräfte getöteten, angeblich militanten Mann im Flüchtlingslager Dheisheh.
Diesen Teil der benötigten Hilfsmittel bringt die Weltgemeinschaft auf: 47%
5. Äthiopien
Das Ausmaß: Mehr als eine Million Vertriebene im Jahr 2017.
Der Konflikt: Regionale Konflikte in Grenzregionen mit Kriegsländern wie Somalia und heftige Dürren treiben Menschen in die Flucht vor Gewalt und Hunger.
Im Bild: Frauen warten im März 2018 in einem äthiopischen Camp auf die Verteilung von Waren. Tausende flohen nachdem die Regierungstruppen neun Zivilisten tötete, die sie für Rebellen der verbotenen "Oromo Befreiungsfront" hielt.
Diesen Teil der benötigten Hilfsmittel bringt die Weltgemeinschaft auf: 41%
4. Burundi
Das Ausmaß: 400.000 Menschen sind vor allem in Nachbarstaaten geflohen. 3,5 Millionen Menschen brauchen Hilfe.
Der Konflikt: Politische Unruhen, Gewalt und humanitäre Krisen wie Hunger treiben Menschen in die Flucht. Die Lage im einstigen Bürgerkriegsland wird schlimmer, seit der Präsident seine Amtszeit 2015 umstritten verlängerte.
Im Bild: Kinder im Gashora-Flüchtlingslager in Ruanda stehen 2015 im Schlamm.
Diesen Teil der benötigten Hilfsmittel bringt die Weltgemeinschaft auf: 27%
3. Zentralafrikanische Republik
Das Ausmaß: 1,2 Millionen Menschen wurden vertrieben.
Der Konflikt: Ethische Konflikte, die teilweise aus angrenzenden Ländern überschwappten, plagen das Land seit Jahren. Die Regierung und islamisch-dominierte Rebellen, die im Norden 2015 eine nicht anerkannte Republik ausgerufen haben, kämpfen um die Kontrolle.
Im Bild: Nachdem Gewalt in der Stadt Bangassou 2017 eskalierte suchten muslimische Flüchtlinge im Lager einer katholischen Mission Schutz.
Diesen Teil der benötigten Hilfsmittel bringt die Weltgemeinschaft auf: 41%
2. Südsudan
Das Ausmaß: Jeder Dritte Bewohner musste sein Haus verlassen, 2,4 Millionen flüchteten in Nachbarländer, 5 Millionen sind im Inland von Hungersnot betroffen.
Der Konflikt: Nach einem Sezessionskrieg spaltete sich das Land vom Sudan ab und schlitterte in einen bisher fünfjährigen Bürgerkrieg. Der neue und schwache Staat hat keine funktionierende Verwaltung, das lässt Konflikte unter Stämmen immer wieder eskalieren.
Im Bild: Das Bidi Bidi-Flüchtlingslager in Uganda im Jahr 2017. Geflüchtete dort flohen 2016 vor ethnischen Säuberungen.
Diesen Teil der benötigten Hilfsmittel bringt die Weltgemeinschaft auf: 54%
1. Demokratische Republik Kongo
Das Ausmaß: 4,5 Millionen Menschen, großteils Kinder, leben als Vertriebene im Inland, 700.000 in Nachbarländern. 8,9 Millionen Menschen sind gravierend unterversorgt. Das NRC setzt die Krise mit Syrien gleich.
Der Konflikt: Die ehemalige belgische Kolonie und Diktatur plagen seit Jahrzehnten ein zersplitterter Bürgerkrieg, politische Einmischung und Konflikte um Ressourcen und Ethnien. Die UNO hat den Konflikt 2017 in die höchstmögliche Kategorie einer Krise hochgestuft.
Im Bild: Ein Camp für Inlandsvertriebene in Kalemie.
Diesen Teil der benötigten Hilfsmittel bringt die Weltgemeinschaft auf: 57%
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