Historischer Großkampftag: Deutschland ist lahm gelegt

"Nein, wir übertreiben nicht", verteidigte EVG-Bahngewerkschaftschef Martin Burkert den Warnstreik am Montag. Im Moment bleibe aber keine andere Wahl: "Wir hoffen, dass die Arbeitgeber daraus lernen und jetzt ernsthaft ein Angebot auf den Tisch legen."
Während Sie das lesen, steht der gesamte öffentliche Verkehr in Deutschland still: vom Elbtunnel über den Hamburger Hafen, die S-Bahn in Berlin bis zum Flughafen in Frankfurt. Mit Start Sonntag Mitternacht war die Bundesrepublik größtenteils lahmgelegt.
"Beispiellos", "historisch" nannte man den Warnstreik im Voraus – und das ist er wirklich: "Dass zwei Gewerkschaften gleichzeitig zu Streik aufrufen, das gab es noch nie.
Solche Solidaritätsstreiks sind eigentlich unnormal", so der Politologe Wolfgang Schroeder von der Uni Kassel zum KURIER.
Gut organisiert...
Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, nach der IG Metall mit rund 1,8 Millionen Mitgliedern die größte Gewerkschaft in Deutschland, und die rund 200.000 Mitglieder starke Gewerkschaft EVG verfügen im Vergleich zum allgemeinen, sehr geringen Organisierungsgrad der Gewerkschaften in Deutschland (13,5 Prozent) über einiges an Macht: "Die EVG hat nach eigenen Angaben einen Organisierungsgrad von 60 bis 80 Prozent, bei Verdi ist es etwas weniger", so Schroeder.
Dabei kämpfen beide, so wie alle Gewerkschaften international, mit schwindenden Mitgliederzahlen. Dazu kommt ein zerrüttetes Verhältnis zur Mutter-Partei SPD. Der große Bruch war 2004 unter Alt-Kanzler Gerhard Schröder: Grund war seine "Agenda 2010" inklusive der umstrittenen Arbeitslosengeldreform Hartz IV. Die Gewerkschaften stellten sich offen gegen den Kanzler, mobilisierten fast eine halbe Million Menschen in ganz Deutschland dagegen.

Vor zwei Wochen legte Verdi mit einem Warnstreik unter anderem den Flughafen BER in Berlin lahm. Heute stehen auch Bus, Bahn, Häfen und sogar Autobahnen still.
Heute gelten die Deutschen noch streikfreudiger als vor ein paar Jahrzehnte. In den vergangenen Jahren haben Streiks in Deutschland zugenommen. International liegt man hinsichtlich der streikbedingten Ausfalltage aber weit abgeschlagen: Zwischen 2011 und 2020 waren es im Schnitt 18 Arbeitstage im Jahr pro 1.000 Beschäftigte, in Belgien 97, in Frankreich 93 Tage. Schlusslicht: Österreich mit zwei Tagen.
... und unpolitisch
Mit den aktuellen Protesten in Frankreich ist der heutige Streik aber nicht zu vergleichen, betont Schroeder: "Was wir erleben, ist kein Generalstreik, sondern ein Warnstreik. Er ist als Mittel des Arbeitskampfes durch das Grundgesetz gewährleistet, zeitlich befristet und muss im Voraus angekündigt werden. Warnstreiks dienen als Druckmittel, um festgefahrene Tarifverhandlungen zu beleben."
Zudem blieben sie immer recht unpolitisch, ohne großer politischer Forderungen. Den Streikenden gehe es ausschließlich um die Tarifverträge. In Frankreich sind Streiks viel politischer, das Streikrecht vergleichsweise liberaler. Vielleicht herrscht auch deswegen ein breites Verständnis: "70 bis 80 Prozent können den Warnstreik nachvollziehen. In den 80er-Jahren wurde Streik noch als Gefährdung der öffentlichen Ordnung gesehen."

Archivbild: Bereits am 3. März legte Verdi Teile von Deutschland lahm, unter anderem Dortmund.
Ein Tag Stillstand: Der Warnstreik dauert von Sonntag, 0.00 Uhr, bis Montag, 23.59 Uhr. Millionen Pendler und Reisende sind betroffen.
Der Streik führte dazu, dass sowohl bei Mietwagen als auch bei Fernbussen die Buchungen und Suchanfragen kurzfristig deutlich anstiegen, wie eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur ergab. Bei Mietwagen kam es zudem teilweise zu deutlichen Preissteigerungen.
Verdi verhandelt für etwa 2,5 Millionen Beschäftigte und will 10,5 Prozent, mindestens aber 500 Euro monatlich. Die EVG verhandelt für rund 230.000 Beschäftigte und fordert zwölf Prozent mehr Lohn, mindestens aber 650 Euro im Monat mehr. Die Angebote der Arbeitgeberseite sind etwa vergleichbar: Beide bieten fünf Prozent mehr Lohn und Einmalzahlungen von bis zu 2.500 Euro.
Verdi geht bereits heute Montag in die dritte Runde der Verhandlungen, EVG verhandelt am 24. und 25. April weiter.
Die Politik trägt den Streik stillschweigend mit. Nur der liberale Verkehrsminister Volker Wissing appellierte, die Auswirkungen auf die Bevölkerung so gering wie möglich zu halten. Generell glauben Experten, dass aufgrund des Fachkräftemangels die Arbeitnehmerposition künftig verbessert und die Streikbereitschaft zunehmen wird.
Auch Schroeder ist sicher, dass der Streik die Verhandlungen beschleunigt und die Position der Gewerkschaften stärkt: "Es ist eine Machtdemonstration." Die nächste Verhandlungsrunde von Verdi beginnt schon heute.
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