Um das alles zu verstehen, muss man ins Berlin der 1960er-Jahre zurückblicken, wo es noch eine andere Person gab, die die Familiengeschichte mitprägte. Peter Finger erzählt von seinem eigenen Vater, den er als „lupenreinen Kommunisten im Sinne der DDR“ bezeichnet. Während dieser im Fernsehen oder Radio politisch-moralisch auftrat, versagte er zu Hause: Er trank, betrog seine Frau, es folgte eine hässliche Trennung. Was bei dem jungen Mann eine Ablehnung auslöste – auch politisch. Dabei hätte er aus Sicht der Partei zu den Hoffnungsträgern der DDR gehören sollen, berichtet er, der Philosophie studierte. Männer wie er sollten als Multiplikatoren wirken. „Man hat uns zu etwas Besonderem erklärt.“ Doch damit wollte er nichts zu tun haben.
„Du hättest es einfach gehabt, glatt mitzumachen. Was hat dich davon abgehalten?“, will sein Sohn Alexander heute wissen. Überhaupt beschäftigt es ihn, warum die einen dagegen waren und die anderen mitgemacht haben – und manche heute noch die DDR verklären. Seit er in Leipzig, Sachsen, lebt, beobachte er das verstärkt: Parteien wie Linke und AfD werben mit Wende-Narrativ und haben starken Zulauf; viele würden sich als Außenseiter sehen, die DDR nicht kritisch genug betrachten, auch die Jüngeren, stellt er fest. Er fühle sich dort zunehmend fremd.
Umso wichtiger erscheint ihm die Familiengeschichte und die Frage, was seinen eigenen Vater zum kritischen Geist gemacht hat. Was er wusste, war, dass er an der Uni ein Foto verbreitete: „Kommunismus, die lichte Zukunft der Menschheit“ steht auf einem Plakat hinter einem Zaun. Es brachte ihn ins Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen. Das wusste Peter Finger, er sah ohnehin keine Perspektive mehr im Land.
Er berichtet von Zäsuren, die ihn prägten. Da waren die verbotenen Bücher, die ein Mitstudent gelesen hatte. Er wurde von der Seminargruppe per Abstimmung der Hochschule verwiesen. Dass er sich – unter Druck gesetzt – seiner Stimme enthielt, kann er sich bis heute nicht verzeihen. Dann erinnert er sich an ein Schnuppergespräch beim Rundfunk, als er kurz überlegte Journalist zu werden. Doch das Gespräch mit dem Redakteur offenbarte die Indoktrination der SED; er hatte genug.
Ausgerechnet in der Stasi-Haft spürte er später erstmals innere Freiheit. „Ich hatte nichts mehr zu befürchten, es war klar, dass ich hier nichts mehr werden würde.“ Peter Finger ist ein Mann, der ruhig spricht, selbst wenn er Aufwühlendes berichtet. Wie die Ungewissheit in der Haft, den Freikauf durch die Bundesrepublik, das neue Leben in West-Berlin und der Blick in die Stasi-Akte, wo ihm bekannte Namen unterkamen. Klar hatte er Fantasien, aber „er hat damit seinen Frieden gemacht.“
Für Alexander Finger ist das schwer nachvollziehbar. Man müsse ein Zeichen setzen, dass jene, die beteiligt waren, auch zur Rechenschaft gezogen werden. „Ich kann nicht glauben, dass du das so schulterzuckend erzählst“, sagt er. Sein Vater: „Na, ich bin 65 Jahre, was erwartest du?“ Beide lachen. Vor 20 Jahren, erklärt er, habe er anders gedacht. Aber eigentlich war er nur froh, aus der DDR raus zu sein. Er konnte Medizin studieren, reisen, lesen und eine Familie gründen.
Nach dem Mauerfall zog die Familie von Berlin-Kreuzberg nach Brandenburg – ins Grüne, gleichzeitig in die frühere DDR. „Was das für die Kinder bedeuten wird, darüber habe ich nicht nachgedacht“, sagt er. Im Ort Birkenwerder wurde Alexander eingeschult. Er erinnert sich an autoritäre Lehrer und Mitschüler, die ihn „Wessi“ nannten und später am Gymnasium mobbten.
Das Erlebte ließ ihn vorsichtig und hellhörig werden. Er gibt zu, dass er sich heute in Ostdeutschland lebend mittlerweile selbst als „Wessi“ definiere, auch wenn ihm das früher fremd war. Er stellt fest, dass er beim Kennenlernen neuer Leute erfragt, „auf welcher Seite standen deine Eltern 1989?“
Peter Finger hört aufmerksam zu. Er sei überrascht, dass es noch eine Rolle spielen könnte, was die Eltern seiner Freunde und Bekannten für eine Biografie haben. „Da merkt man schnell, wie jemand tickt“, ist Alexander überzeugt. Vieles wird in den Familien weitertradiert. Und er kenne nicht viele, die von einer ähnlichen Geschichte erzählen können wie er. Manchmal nimmt er sie als schwer wahr. Dennoch sieht der 28-Jährige seinen Vater als gutes Gegenbeispiel, das zeige: „Ich kann mich wehren und muss nicht alles hinnehmen.“
Eine Perspektive aber fehlt ihm: Über den Großvater wurde nie gesprochen. „Was ich herausgefunden habe, fand ich erschreckend, trotzdem hätte ich gerne versucht, zu verstehen, was ihn zu so einem Menschen gemacht hat“, sagt Alexander Finger. Der Großvater brach den Kontakt zur Familie einst ab. Dass sein Sohn in Haft war, dürfte er mitbekommen haben, glaubt dieser. Macht hatte der SED-Mann ohnehin nicht mehr, die Partei hatte ihn geschasst. Gestorben ist er im April 1989. Peter Finger hätte es ihm gegönnt, den Mauerfall mitzuerleben.
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