Wer am Leipziger Bahnhof ankommt, kann sie nicht übersehen und überhören: Die Lichter aus den Tausend Taschenlampen und die vielen Stimmen, die skandieren: „Wir sind das Volk – keine Gewalt“.
Eine Kunstinstallation erinnert an jene Tage, als die DDR ins Wanken kam. Zirka 70.000 Menschen zogen am 9. Oktober 1989 nach dem montäglichen Friedensgebet in der Nikolaikirche über den Innenstadtring – so viel wie noch nie zuvor. Bewaffnete Sicherheitskräfte standen mit Wasserwerfern und Schützenpanzerwagen bereit, doch viele Demonstranten trugen Kerzen in den Händen. Damit hatte keiner gerechnet.
Die Geschehnisse von 1989 im Zeitraffer:
Den Protest im Ohr
David Timm, Universitätsmusikdirektor, sitzt im 28. Stock des Cityhochauses am Augustusplatz. Unten, wo auch die Universität ist, hatte er im Herbst 1989 jeden Montag Dirigierunterricht. Und seit einigen Wochen kamen dort auch montags Menschen zusammen. Der damals 20-Jährige nutzte die Freistunde, um sich ihnen anzuschließen. Die Stimmung hat er noch in den Ohren; sie ist ihm unvergessen: „Der Klang der Menschenstimmen, verbunden mit den Glocken des Kirchhauses, dem Quietschen der Straßenbahn und gesungenen Slogans wie Stasi in den Tagebau.“
Die Proteste waren die Folge auf eine Entwicklung, die die SED im Herbst 1989 kaum noch steuern konnte: Über den Sommer waren Tausende via Ungarn geflohen oder besetzten die bundesdeutschen Botschaften in Budapest und Prag. Im September konnten sie in Zügen durch die DDR ausreisen. Viele versuchten, an den Bahnhöfen aufzuspringen oder demonstrierten – in Dresden, Plauen und in Leipzig.
Für Gitta Perl, die Besucher damals wie heute durch Leipzig führt, war die Angst ein Grund, den Protesten anfangs fernzubleiben. Die ersten Montags-Demos hatte sie unwissend miterlebt. Sie saß mit Gästen in einem Bus fest, da die Polizei die Straßen abgeriegelt hatte. Sie wusste: Bei jeder Kleinigkeit droht die Entlassung oder Schlimmeres – „wir hatten eine Familie zu ernähren“, sagt sie mit Blick auf ihre Kinder und den Mann, ein Sprachwissenschaftler, der nicht ins Ausland durfte. Natürlich war noch mehr: Der Verfall der Häuser, die Bespitzelung – dennoch war Flucht kein Thema. „Das heißt nicht, dass man das Regime bejubelte, sondern versucht hat, damit einigermaßen klar zu kommen und seine inneren Werte nicht zu verlieren.“
Ausreiseverbot
Wenig Perspektive sah Mario Schröder, heute Ballettdirektor, damals aufstrebender Solist mit Ausreiseverbot. Im Herbst 1989 stand er auf der Bühne und musste abbrechen. „Ich konnte nicht verstehen was passiert, da werden Leute verhaftet und wir tun so, als wäre nichts?“ Schröder war zuvor in der Nikolaikirche gewesen und konnte sich noch losreißen, als man ihn verhaften wollte.
Seit 1982 gab es in der Kirche die Friedensgebete; es wurde aber auch über Umweltschutz und den Kalten Krieg gesprochen. „Schwerter zu Pflugscharen“, der Bibelspruch steht heute noch auf einem Plakat in der Kirche. Er prägte die Friedensbewegung ebenso wie der Spruch „Wir sind das Volk“, der bei den Protesten fiel. „Der Slogan gehört nur den Demonstranten von damals, die Mut bewiesen haben, allen anderen steht er nicht zu“, sagt Musikdirektor David Timm in Richtung Pegida. Die fremdenfeindliche Bewegung konnte sich im Gegensatz zu Dresden nie in Leipzig etablieren – es gab viel Gegenprotest von Vereinen und Bündnissen.
Leipzig, ein gallisches Dorf?
Leipzig war schon immer anders. Auch zu DDR-Zeiten hatte die Stadt einen liberaleren Ruf, weiß Historiker Alexander Clarkson. „Selbst den SED-Parteikader misstraute man in Berlin.“ Dazu kommt, dass Leipzig als Handels- und Messestadt immer ein Knotenpunkt zur äußeren Welt und offener war. Clarkson ortet eine Art „Gallisches-Dorf-Mentalität“. Nach der Wende gab es viel Leerstand, was zu Hausbesetzungen führte; zudem hatte die Stadt eine starke sozialdemokratische Tradition, die von der SED nie wirklich ausgemerzt werden konnte. So gab es nach 1990 bessere Grundbedingungen für zivilgesellschaftliche Initiativen, analysiert er. Auf den Ruf ihrer Stadt sind viele Leipziger stolz. Auch Ballettdirektor Mario Schröder, seine Tanzkompanie besteht aus 23 Nationen – „das belebt Herz und Kopf“, sagt er. „Wenn wir das abschaffen, schaffen wir uns selbst ab.“ Der Zuwachs der AfD beschäftigt ihn; und so wie damals stellt er sich heute die Frage: „Was kann ich tun?“
Am 9. Oktober war es für ihn klar. Sicherheit gab ihm, dass plötzlich immer mehr Menschen in der Innenstadt waren. Er erinnert sich an die Polizisten, die teils beschämt nach unten geschaut haben; andere fragten nur: „Weiß deine Mutter, dass du hier bist?“ Die Situation hätte schnell. eskalieren können. Denn, was alle an diesem Tag im Kopf hatten: Das Massaker an Aufständischen in Peking war erst wenige Monate her, die DDR-Führung hatte sich dazu solidarisch erklärt.
Doch die Gewalt blieb aus, „so brach eine Mauer, bevor die eigentliche Mauer fiel“, sagt Musiker David Timm. Die Stimmen, die Lichter der Kerzen wurden über den Westfunk im Fernsehen übertragen. Und auch Tausende DDR-Bürger sahen, was möglich war.
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