Natürlich, dass Kanzler angegriffen werden, dass ihre Beliebtheit schwindet, ist nichts Besonderes. Angela Merkel dürften noch heute die „Merkel muss weg“-Rufe im Ohr sein, die sie am Höhepunkt der Flüchtlingswelle samt Galgen-Attrappen aushalten musste. Und Gerhard Schröder musste sich lang „Basta!“-Kanzler nennen lassen, weil er am Tiefpunkt seiner Beliebtheit die eigenen Gewerkschafter anschrie.
Aber die Unzufriedenheit mit Scholz ist tiefergreifend: Merkels Arbeit fand immer eine Mehrheit der Deutschen gut, ihr Tiefstwert lag in 16 Jahren Kanzlerschaft bei 50 Prozent. Scholz ist nach zwei Jahren im Amt bei desaströsen 28 Prozent angekommen.
Superwahljahr
Wenig Wunder also, dass den Genossen Böses schwant. 2024 ist in Deutschland ein Superwahljahr; zunächst die EU-Wahlen im Juni, danach Landtagswahlen im Herbst, die für die SPD zum Moment der Entscheidung werden könnten: In Thüringen, wo AfD-Rechtsaußen Björn Höcke auf Platz eins liegt, dümpelt die Kanzlerpartei bei sechs Prozent herum, in Sachsen bei sieben. Bleibt das so, wird das Ergebnis vielleicht sogar noch schlimmer, droht in der SPD eine Revolte, und Scholz könnte im Bundestag im schlimmsten Fall die Vertrauensfrage stellen.
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Der Ersatzkanzler
Nicht wenige gehen deshalb mit dem Gedankenspiel hausieren, Scholz zu ersetzen, bevor alles zu spät sei. Als „Ersatzkanzler“ wird der Mann gehandelt, der – entgegen aller Wahrscheinlichkeit – die Polit-Beliebtheitsliste seit geraumer Zeit anführt: Boris Pistorius, Verteidigungsminister seit gerade mal einem Jahr.
Dass er so gut ankommt, hat nicht nur mit den Zeichen der Zeit zu tun, mit Putins Überfall und der generellen Unsicherheit. Es ist auch nicht so, dass Verteidigungsminister traditionell gut angeschrieben wären in Deutschland. Das Gegenteil ist eher der Fall: An der maroden Bundeswehr gingen schon einige Karrieren zu Bruch, Ex-CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer kann ein Lied davon singen.
Vielmehr sei Pistorius alles, was Scholz nicht ist, sagen seine Fans. Im Auftritt zupackend, in der Sprache offen, oft mehr als direkt, man denke an seinen „Deutschland muss kriegstauglich werden“-Sager. Und: Was er angreife, etwa die Reformen in der Bundeswehr, müsse danach nicht mühsam juristisch repariert werden. Dieser Vorwurf ist einer, mit dem Scholz seit Monaten hadert: Nachdem der Verfassungsgerichtshof im Herbst die Budget-Herumschiebereien der Ampel kassiert hatte, büßte Scholz seinen Markenkern ein – dass er vielleicht visionslos, aber zumindest ein verlässlicher Handwerker sei.
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Vorwärtsverteidigung
Zwar sagt Pistorius offen, er habe kein Interesse am Kanzleramt, und auch SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich gilt als zu loyal, um einen Aufstand gegen Scholz anzuzetteln. Aber allein die Gerüchte um Pistorius setzen Scholz zu: Zurücktreten, die Vertrauensfrage stellen, all das wolle er nicht, sagte er jetzt in einem Interview mit Zeit. Aber er gab sich dabei ungewohnt selbstkritisch, wenn auch nur auf Nachfrage. Das ist wohl seine Art der Vorwärtsverteidigung.
Allein, selbst dafür kassierte er Kritik. Angekündigt habe Scholz schon so viel, ein „grünes Wirtschaftswunder“ oder den „Doppel-Wumms“ etwa, schrieben Kommentatoren. Geblieben seien aber eher die Worthülsen. Das gilt auch für seine viel zitierte „Zeitenwende“: Die erlebt Scholz nämlich womöglich am eigenen Leib – und das früher als die Bundeswehr.
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