Deutschland: "Die SPD steckt in einer fatalen Lage"
KURIER: In Bayern fiel die SPD auf ein einstelliges Ergebnis. Lässt sich das mit dem Image der Großen Koalition in Berlin erklären oder liegen die Gründe tiefer?
Albrecht von Lucke: Die jüngste Vergangenheit, vor allem das Versagen in der Causa Maaßen, hat das ohnehin schwache Vertrauen der SPD in die eigene Spitze massiv untergraben. Denn bereits direkt nach der Wahl war bei vielen der Unwille immens, in eine weitere Große Koalition einzutreten. Die Partei ist heute zutiefst gespalten in eine größer werdende Strömung, die gar nicht mehr koalitionswillig ist, und eine andere, die aus bloßer Einsicht in die Vernunft an der Großen Koalition festhält – um nicht bei Neuwahlen sofort auf unter 15 Prozent abzustürzen. Und als drittes kommt hinzu, und das ist von besonderer Ironie, dass der Konflikt innerhalb der Union – mit dem Spaltpilz Horst Seehofer – vor allem der SPD schadet.
Sie nannten einmal die Sozialreformen unter Gerhard Schröder, bekannt als Agenda 2010, ein „historisches Versagen“. Leidet die SPD bis heute darunter?
Die SPD steckt in einer strategisch fatalen und historisch einzigartigen Lage. Sie wird nämlich gleich von drei Seiten angegriffen. Erstens aus der Mitte, von der Union, die durch Angela Merkel liberaler geworden ist – aber gleichzeitig auch durch die erstarkten Grünen. Als zweites aber verstärkt von links, nämlich neuerdings neben der Linkspartei auch durch die neue Sammlungsbewegung. Und drittens auch von rechts, durch die AfD, die sich als neue Arbeiterpartei geriert. Das verweist auf das eigentliche Problem: Die SPD verfügt durch die neoliberal grundierte Agenda 2010 nicht mehr über ihr notwendiges Alleinstellungsmerkmal, die soziale Gerechtigkeit.
Martin Schulz warb im Wahlkampf 2017 für staatliche Investitionen, für Bildungsreformen, die Frauen und Familien helfen, und wollte den EU-Steuerwettbewerb bekämpfen. Trotz Gerechtigkeitsthemen reichte es nur für 20 Prozent.
Das Problem war, dass Martin Schulz nach seinem großen Versprechen, eine grundsätzliche Wende in der SPD-Politik und eine Korrektur der Agenda 2010 einzuläuten, nichts Konkretes geliefert hat.
Und heute?
Dieser Absturz des Jahres 2017, auch emotional, in den riesigen Erwartungen, macht der SPD noch heute ungemein zu schaffen. Sie hat es seitdem nicht mehr geschafft, neuen Zukunftsoptimismus aufzubauen. Das aber ist jetzt genau die Stärke der deutschen Grünen. Diese sind die Gewinner der Krise der SPD und übrigens auch der CDU. Die Grünen treten derzeit mit einem idealistisch grundierten Gestaltungswillen an, den die alten Volksparteien nicht mehr verkörpern.
Sie sagten kürzlich, das Ende der Volkspartei SPD kündigt sich an. Ist das ein Warnruf oder bereits unumkehrbar?
Wenn man eine Volkspartei funktionalistisch begreift, indem man sagt, die alte Sozialdemokratie war immer in der Lage, um den Kanzler und um Ministerpräsidentenämter zu konkurrieren, muss man feststellen, dass die SPD dies in etlichen Ländern, aber auch im Bund heute nicht mehr kann. In diesem Sinne ist die SPD nicht mehr satisfaktionsfähig und nicht mehr auf Augenhöhe mit der Union. Die große Frage lautet daher: Ist diese Demokratie mit nur einer Volkspartei im Bund, CDU/CSU, überlebensfähig? Bisher hat die Demokratie der Bundesrepublik dadurch funktioniert, dass es zwei Volksparteien gab - und damit die Möglichkeit des Machtwechsels.
Wie sehr schadet die Große Koalition der SPD?
Sie leidet darunter, dass sie von den letzten 20 Jahren 16 in der Regierung verbracht hat – und davon dreimal in einer Großen Koalition. Die SPD ist durch die Regierungsbeteiligungen völlig ermattet. Die Grünen regieren hingegen seit 2005 nicht mehr und sehnen sich nach einer neuen Gestaltungsoption in einer Regierung.
Was braucht die SPD in ihrem aktuellen Zustand?
Die SPD braucht vor allem eine ungemeine inhaltliche Erneuerung. Wenn sie ihr altes Alleinstellungsmerkmal der sozialen Gerechtigkeit nicht modernisiert und aktualisiert, wird sie keine Chance haben, den Charakter einer Volkspartei wieder für sich zu reklamieren. Ich sehe aber nicht genau, wie ihr früheres Merkmal sie noch einmal stark machen kann wie vor der Agenda 2010. Denn mittlerweile sitzt auch die Linkspartei auf diesem Thema.
Überall in Europa schwächelt die Sozialdemokratie. In Österreich hat Ex-Kanzler Christian Kern mit seinem „Plan A“ eine Neuorientierung skizziert. Da kamen Arbeitszeitflexibilisierung, Beschränkung von Studienplätzen und eine Senkung der Steuerquote vor. Wäre das ein Weg?
Nein. Kern verkörpert die sanfte Version des Dritten Weges, einer SPD der Mitte. Er wollte so das nachholen, was die Agenda 2010 in brutaler Weise gemacht hat. Die SPD steht heute schon an einem anderen Punkt. Sie muss eine neue linke Zukunftsperspektive deutlich machen. Die bloße Korrektur der Fehler der Agenda 2010, die Andrea Nahles gerade versucht, wird dafür nicht reichen. Die SPD muss ein neues modernes Konzept der Gerechtigkeit auflegen, das genau die Fragen mit ins Visier nimmt, bei denen die Grünen jetzt Gestaltungsoptimismus verkörpern.
Wie kann die Neuerfindung der Sozialdemokratie in Europa aussehen?
Sie kann jedenfalls nicht so aussehen wie die Politik der Neuen Mitte, die unter Gerhard Schröder betrieben wurde. Die Freisetzung wirtschaftlicher Kräfte, ob durch Schröder, Tony Blair oder Francois Hollande, führte zu keinem Erfolg für die Sozialdemokratie. Im Gegenteil: Diese neoliberale Wende hat zu einer Erosion ihrer Wählerschaft geführt.
Und stattdessen?
Die Frage von Gerechtigkeit muss im Mittelpunkt jeder sozialdemokratischen Debatte stehen. Da geht es, nur als Beispiel, auch um die globale Dimension, also etwa darum, Fluchtursachen zu bekämpfen. Die Fragen der SPD sind in keiner Weise Fragen von gestern. Wir erleben, national wie international, eine gewaltige soziale Kluft. Diese hat auch eine zeitliche Dimension, nämlich die Frage der Generationengerechtigkeit. Auch Themen wie Digitalisierung, neue Arbeitsgesellschaft und Ökologie sind Gerechtigkeitsfragen. Aber die SPD muss ihr Gerechtigkeitskonzept ganz neu formulieren. Nur dann wird sie in der Zukunft noch eine Chance haben.
Zur Person
Albrecht von Lucke (51) ist Politikwissenschaftler, Jurist und Redakteur der Berliner „Blätter für deutsche und internationale Politik“. Der Autor zahlreicher Bücher (u. a. „Die schwarze Republik und das Versagen der deutschen Linken“ ) ist auch als wortgewaltiger Kommentator in deutschen Politiksendungen bekannt.
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