Armutsalarm spaltet Politik und Wissenschaft

Sozialverbände sehen trotz Vollbeschäftigung einen neuen Armuts-Rekord, Wirtschaftsforscher das Gegenteil.

Immer vor Weihnachten, wenn die Nachrichtenlage dünner wird, füllt sie die alarmierende Meldung des „Paritätischen Gesamtverbandes“. Heuer mit besonders drastischer Aussage: „15,1 Prozent der Deutschen sind armutsgefährdet, mehr als je zuvor seit der Wiedervereinigung. Noch vor zwei Jahren waren es 14,5 Prozent.“

Es sei ein „Paradoxon“, so Ulrich Schneider, der Sprecher des Dachverbandes vor der Presse und in bezahlten Anzeigen in den Medien, dass dies trotz Vollbeschäftigung passiere. Das deute darauf hin, dass die „statistischen Erfolge am Arbeitsmarkt mit dessen Amerikanisierung erkauft“ würden, die in USA unter dem Wort „working poor“ bekannt ist. „Deutschland arbeitet sich arm“, so der Funktionär: Es sei „ein unübersehbarer Fingerzeig auf die Ausweitung der Niedriglöhne und nicht-auskömmlicher Beschäftigung.“ Besonders übel sei neuerdings die Lage in Berlin und im Ruhrgebiet.

Laut Schneiders Definition, die sich auf die EU beruft, sind alle Personen in Haushalten armutsgefährdet, deren Einkommen unter 60 Prozent des Durchschnitts liegt. Konkret wären das derzeit 848 Euro netto in Singlehaushalten und 1781 Euro in Haushalten mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern.

Umstrittene Aussage

Die Aussage des Sozialverbandes ist politisch und wissenschaftlich umstritten. Politisch, weil sie im schon angelaufenen Wahlkampf die Argumentation der „Linken“ und von Teilen der SPD fast wörtlich wiedergibt. Die Bundesregierung kam in ihrem gerade vorgelegten „Armutsbericht“ zum gegenteiligen Schluss: Die Vollbeschäftigung habe das Armutsrisiko messbar verringert.

Auch wissenschaftlich sind die jährlich von Schneiders Sozialverband veröffentlichten „Armutsberichte“ sehr umstritten. Würde er die OECD-Definition dafür nutzen, wären nur halb so viele Deutsche armutsgefährdet, wiesen schon in den vergangen Jahren Wirtschaftsforscher nach. Deren große Mehrheit ist sich einig, dass seit der Arbeitsmarkt-Reform um „Hartz IV“ 2005 die Trends stabil sind. Das beweise auch der international anerkannte „Gini-Koeffizient“ für die Wohlstandsverteilung, der sich seither kaum geändert hat. Ähnlich verlaufende Argumentationen zwischen Parteien und ihren vorgelagerten Verbänden gibt es derzeit um Altersarmut und das Schrumpfen der Mittelschicht.

Kommentare