Abtreibungsverbot: Der Kampf der Kulturen in den USA
Das Thema Abtreibungsverbot ist nur eines von mehreren, bei dem sich Republikaner und Demokraten in die Haare geraten. Die Kluft verschärft sich angesichts der nahenden Kongresswahlen.
Der Schlangenfluss trennt künftig nicht nur zwei Bundesstaaten in Amerika. Sondern ganze Welten.
Am linken Ufer, in Ontario/Oregon, mietet „Planned Parenthood“ gerade Räume für medizinische Zwecke an. Das ist die landesweit wichtigste Organisation für die Selbstbestimmung von Frauen in existenziellen Notlagen: kurz Abtreibung.
Rechts vom Strom, im eine Stunde südlich gelegenen Boise, müssen Einrichtungen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, schließen. Der republikanisch beherrschte Kongress im US-Bundesstaat Idaho hat im Vorfeld einer Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofes in Washington das hinter Oklahoma strengste Anti-Abtreibungsgesetz in ganz Amerika verabschiedet. Ab der sechsten Woche wird eine Schwangerschaftsabbruch zur Straftat. Selbst bei Inzest oder Vergewaltigung.
Oregon, der links-liberale, demokratisch regierte Nachbarbundesstaat am Pazifik, hat dagegen das Recht auf Abtreibung in der Bundesstaatsverfassung kodifiziert. Dort, wie auch in Washington State und Kalifornien, rechnet man schon bald mit Dutzenden Frauen aus Idaho, die hier auf medizinische Betreuung hoffen, die ihnen in ihrer Heimat-Region verwehrt wird.
Wildwest-Methoden
Mit dem Flickenteppich gehen Wildwest-Methoden einher: In Spokane Valley und Pullman etwa, zwei kleineren Städten in Washington State nahe Idaho, rechnen die Verantwortlichen mit militanten Protesten. Schon 2015 wurde hier eine Abtreibungsklinik in Brand gesetzt. Etliche Einrichtungen heuern gerade zusätzliches Sicherheitspersonal an oder lassen schusssichere Fensterscheiben einsetzen. „Wir rechnen mit dem Schlimmsten“, sagt ein Ärztin.
Der Kontrast Oregon-Idaho ist im Kulturkrieg um die Abtreibung kein Einzelfall. 26 Bundesstaaten, ausnahmslos republikanisch regierte, schicken sich gerade an, Abtreibung legislativ de facto zu verunmöglichen. Während demokratisch-liberale verfasste Bundesstaaten ihre Kapazitäten präventiv ausbauen, um dem Herr zu werden, was Insider „Abortion“-Tourismus nennen.
Gratis-Ticket zur Klinik
Das Guttmacher-Institut, das für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch eintritt, glaubt, dass Kliniken an der Westküste oder in Neu-England mit Zuwachsraten von 200 Prozent und mehr rechnen müssen. Tech-Firmen wie Amazon, Apple, Microsoft, Tesla, Airbnb oder die
Citigroup-Bank verpflichten sich, ihren Mitarbeiterinnen falls nötig die Reisekosten in Bundesstaaten zu erstatten, die Abtreibung weiter möglich machen. Salesforce und andere Unternehmen, die im besonders rigiden Südstaat Texas residieren, wo ebenfalls ab der sechsten Schwangerschaftswoche ein Abbruch zur Straftat wird, zahlen sogar den Umzug, wenn eine Betroffene das wünscht.
Politisch ist das Ringen um die Abtreibung ein zweischneidiges Schwert: Es kann die Demokraten vor den Zwischenwahlen im Kongress am 8. November revitalisieren und so eine befürchtete Erdrutsch-Schlappe verhindern, die Joe Bidens Präsidentschaft über Nacht lähmen würde. Dahinter steht die Tatsache, dass mehr als 60 Prozent der Amerikaner in Umfragen unverändert das generelle Pro-Abtreibungsstatut befürworten, das seit fast 50 Jahren unter dem Stichwort „Roe versus Wade“ höchstrichterlich Bestand hat.
Republikanische Kongress-Kandidaten, die im Vorfeld einer erwarteten Abkehr des Obersten Gerichts von dem 1973er-Urteil mit Hurra-Rufen auf den Pro-Life-Zug springen, könnten darum unter die Räder kommen.
Andererseits haben diese Kreise nicht zuletzt durch die Trump-Jahre, in denen drei konservative Höchstrichter berufen wurden, Blut geleckt. Man will insgeheim nicht nur Abtreibung verbieten. Auch die Homo-Ehe und andere liberale Errungenschaften, so befürchten es viele Demokraten, wären wohl nicht mehr sicher, wenn der Supreme Court bis Anfang Juli „Roe versus Wade“ tatsächlich kippte. „Dann brechen überall die Dämme“, heißt es bei demokratischen Abgeordneten in Washington.
Manche sehen das jetzt schon so und verweisen dabei auf eine Zahl: 1.568. So viele Bücher haben lokale und regionale Entscheider nach Zählungen der Non-Profit-Organisation PEN in den vergangenen neun Monaten aus öffentlichen Büchereien und Schul-Bibliotheken entfernen lassen, weil das dort zu lesende Gedankengut als problematisch erachtet wird. In den allermeisten Fällen geht es um Werke, die sich mit Rassismus, Konflikten zwischen Weißen und Afroamerikanern beschäftigen sowie alle Themen, die sich um sexuelle Identität, Homosexualität, Transgender oder die Rechte der LGBTQ-Community drehen. Laut PEN gerieten in den Vorjahren im Schnitt jeweils „nur“ 300 Bücher auf den Index.
Graswurzel-Protest
Protest dagegen findet selten den Weg in die breite Öffentlichkeit – nicht so im Fall der 16-jährige Ella Scott: Sie ist Vizepräsidentin des „Klubs der verbotenen Bücher“ an der Vandegrift High School in Austin/Texas. Dort treffen sich regelmäßig Teenager und beraten darüber, wie sie mit „book bans“ umgehen können. Überall in Amerika regt sich nun solch Graswurzel-Protest, der Teil des Kulturkampfes in Amerika ist. Und dessen nächstes Kapitel wird jetzt am Schlangenfluss zwischen Oregon und Idaho geschrieben.
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