Der gescheiterte Arabische Frühling
Am Anfang stand eine Ohrfeige. Sie sollte eine ganze Weltregion verändern.
Wenn man Augenzeugen in Sidi Bouzid, einer kleinen Stadt im Herzen Tunesiens, glauben darf, konfiszierte eine Delegation des örtlichen Ordnungsamtes am 17. Dezember 2010 die Ware des Straßenhändlers Mohammed Bouazizi, weil der keine Lizenz hatte. Im Streit soll eine Beamtin dem jungen Mann eine Ohrfeige gegeben haben. Kurz darauf übergoss sich der 26-Jährige mit Benzin und zündete sich an – aus Verzweiflung über sein Leben sowie die Willkür der Behörden und des Regimes, wie erzählt wird. Im Jänner erlag er seinen Verletzungen.
Die Selbstverbrennung war der Zündfunke, der einen Flächenbrand des Protestes in Nordafrika und Nahost auslöste. Zehntausende und Aberzehntausende vorwiegend junge Menschen gingen in den folgenden Monaten auf die Straße. Sie protestierten gegen Korruption, Nepotismus und Unterdrückung durch die Regime in Tunesien, Libyen, Ägypten, in Bahrain und im Jemen sowie in Syrien. Brot und Freiheit und politische Mitsprache lauteten die Ziele der Bewegung, die unter dem Namen „Arabischer Frühling“ in die Geschichte einging.
Chaos oder Krieg
Und die in weiten Teilen gescheitert ist. Libyen, dessen Langzeitdiktator Muammar al Gaddafi im Oktober 2011 von Häschern gefasst und grausam getötet wurde, ist heute ein „failed state“ mit machtloser Regierung und mächtigen Clans im Kriegszustand – und das Einfallstor für Flüchtlinge nach Europa.
In Ägypten, wo im Februar 2011 Langzeitherrscher Hosni Mubarak abdanken musste, wurde das nachfolgende Übel, der politische Aufstieg der radikalen Muslimbrüder, von der Gegenrevolution des Generals und heutigen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi abgelöst. Von mehr Demokratie oder mehr Brot da wie dort keine Spur, auch in Algerien nicht.
Im Jemen sowie in Syrien herrscht überhaupt Krieg. Die Proteste gegen Syriens Präsidenten Baschir al Assad wuchsen sich zu einem Bürgerkrieg mit Millionen Flüchtlingen und einem regionalpolitischen Kräftemessen vom Iran über die Türkei bis Saudiarabien aus – und die Terror-Geißel „Islamischer Staat“ entsprang diesem Bürgerkrieg. Im Jemen fand das Ringen um die regionale Vorherrschaft zwischen Iran und Saudiarabien in einems grausamen Stellvertreterkrieges seine Fortsetzung.
Und in Tunesien selbst, von wo der „Arabische Frühling“ seinen Ausgang nahm? Die ehemalige Urlauber-Destination am Mittelmeer gilt vergleichsweise als Erfolgsmodell dieses Frühlings, wobei es der Leiter des Tunesien-Büros der Konrad Adenauer-Stiftung so formuliert: „Eine noch nicht abgeschlossene Erfolgsgeschichte oder ein noch nicht abgeschlossener Beweis für das Scheitern der Demokratie.“ Das Glas ist halb leer oder halb voll.
Diktator Zine el-Abidine Ben Ali und seine Frau Leila Trabelsi, deren Clan das halbe Land plünderte, flüchteten im Jänner 2011 nach Saudi Arabien ins Exil. Das Volk gab sich eine neue Verfassung und konnte einen Bürgerkrieg abwenden (wofür ein „Quartett für den nationalen Dialog“ 2015 den Friedensnobelpreis erhielt). Es gibt Wahlen, es gibt weitgehend freie Arbeitsbedingungen für Journalisten, „zahlreiche moderat islamistische Frauen sitzen im Parlament und Homosexuelle werden in Talkshows eingeladen“, sagt Isabelle Werenfels von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin im Spiegel. Die Bürgermeisterin von Tunis ist eine Frau, das gibt es in keiner anderen arabischen Hauptstadt.
Armut und Frust
Dafür wechseln die Regierungen im Schnitt im Jahrestakt (acht Ministerpräsidenten seit 2011, jetzt regiert ein Technokratenkabinett); die Islamisten und der gemäßigte Ableger der Muslimbruderschaft, die Ennahda-Partei, spielen eine große Rolle im Land. Vor allem aber ist die wirtschaftliche Situation verheerend und die Unzufriedenheit der Bevölkerung groß. Drei Viertel sagen laut Umfrage der Konrad Adenauer-Stiftung, die Lage sei schlechter als 2010. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 35 Prozent, 40 Prozent der Tunesier leben laut offizieller Statistik in Armut, die Korruption ist so verbreitet wie zu Ben Alis Zeiten, die schlechte Gesundheitsversorgung tut in Corona-Zeiten ein Übriges zum Unmut. Der sich auch in Flüchtlingsankünften in Europa zeigt: Ein Gutteil der mit Booten über das Mittelmeer kommenden Migranten stammt zur Zeit aus Tunesien.
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