Vor drei Monaten hätte sich die Frage gar nicht erst gestellt. Dank seines langen Engagements für die Bürgerrechtsbewegung, dank seiner achtjährigen Partnerschaft als Vize an der Seite von Präsident Obama, dank seines gemäßigt konservativen Weltbildes verfügt Biden in der „Black Community“ über mehr Glaubwürdigkeit auf der Straße als jeder andere Kandidat, jedenfalls bei den Älteren. „Wir kennen Joe. Aber noch wichtiger: Joe kennt uns“, begründete der einflussreichste Demokrat rund um
Charleston, der Kongress-Abgeordnete und „Königsmacher“ Jim Clyburn (79), seine öffentliche Wahlempfehlung für Biden. Sie war als überlebensnotwendige Vitaminspritze gedacht.
Denn Bidens zweistelliger Vorsprung in den Umfragen bei schwarzen Wählern gegenüber Bernie Sanders war zuletzt auf eine einstellige Zahl nahe der Fehlertoleranz geschmolzen. Man hat im Palmettopalmenstaat fein registriert, dass der 77-Jährige in Iowa, New Hampshire und Nevada kein Sieger-Gen an den Tag legte. Auch, dass der Milliardär Tom Steyer mit Millionenaufwand spezifische Angebote an die afro-amerikanische Wählerschaft in SC macht und – inzwischen bei rund 15 Prozent gehandelt – gierig an Bidens Kuchen knabbert, blieb nicht verborgen.
Eine echte Sensation wäre es also nicht, würde Bernie Sanders in South Carolina auch die vierte Vorwahl in führender Position beenden und sich enormen Rückenwind für den Super-Wahltag am 3. März (14 Bundesstaaten, rund 1.350 Delegiertenstimmen) verschaffen. Im Umkehrschluss wäre für Biden, der South Carolina als seine „Brandmauer“ bezeichnet hat, nach 1998 und 2008 wohl auch der dritte Anlauf in Richtung
Weißes Haus gescheitert.
Um das zu verhindern, geht der 77-Jährige gemeinsam mit Ehefrau Jill seit Tagen im Großraum Charleston jede sich bietende Extra-Meile. Er sitzt in Baptisten-Gottesdiensten. Er schaut bei afro-amerikanischen Geschäftsleuten vorbei. Er macht schwarzen Jugendlichen Mut. Er geißelt Beschlüsse der Trump-Regierung, die gegen ethnische Minderheiten gerichtet sind. Er verspricht im Fernsehen, im Fall seiner Wahl die erste schwarze Richterin am Obersten Gerichtshof in Washington zu installieren. Biden projiziert Stärke, der bisher aber das Fundament fehlt. Mit Erfolg?
Ruben Miller, ein 26-jähriger schwarzer Computer-Spezialist, ist vom Auftritt in der Universitätsturnhalle der Charleston „Cougars“ bedingt angetan. Biden hält vor gut 600 meist älteren Leuten seine Standard-Rede vom „Kampf um die Seele Amerikas“, den es bei der Wahl am 3. November gegen
Donald Trump zu bestehen gelte. Waffengesetze, soziale Ungleichheit, Studiengebühren, Klimawandel – Biden wechselt gehetzt die Themen. „Es gibt nichts, was wir nicht schaffen können“, donnert er in den Saal. Und schiebt seine Lieblingsfloskel hinterher: „Folks, here’s the deal“ – Leute, darum geht’s hier. „Ich mag Joe sehr. Aber das hört sich alles so rückwärtsgewandt an. Mir fehlen die Schwerpunkte für die Zukunft“, sagt Miller. Er berichtet von einer Kundgebung mit Bernie Sanders, „da waren über 2.000 Leute, da brannte die Luft“.
Joe Biden bewegt sich in Charleston auf emotional vermintem Terrain. Die vor 350 Jahren gegründete Stadt am Atlantik war lange der größte Sklavenhafen Amerikas. 1861 brach im nahe gelegenen Fort Sumter der Bürgerkrieg aus. Sprung in die Neuzeit: Im Frühjahr 2015 wurde in North Charleston, wo die Hälfte der Einwohner schwarz ist und große soziale Schieflagen herrschen, dem unbewaffneten Schwarzen Walter Scott auf der Flucht von einem weißen Polizisten tödlich in den Rücken geschossen. Das Video ging um die Welt. Wenige Wochen später setzte sich der weiße Rassist Dylan Roof still in die älteste afroamerikanische Kirche in den Südstaaten, die Emanuel AME Church in Charleston, und erschoss aus Hass neun schwarze Kirchgänger.
Joe Biden hat, gemeinsam mit Obama, damals viele richtige Worte gefunden. Er weiß, dass er sich darauf nicht ausruhen kann. „Ich will mir den Respekt eines jeden Wählers erarbeiten“, sagt er, „wenn South Carolina mir einen Sieg beschert, kann uns nichts aufhalten.“ Und wenn nicht? „Ich werde South Carolina gewinnen.“
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