2017 schaute die Welt nach Wittenberg, wo Martin Luther vor 500 Jahren die Reformation in Gang setzte. Doch die Blicke richteten sich auch an die Fassade seiner St. Marienkirche: Dort hängt in mehreren Metern Höhe ein Zeugnis von mittelalterlichem Antijudaismus, das seit einiger Zeit die Gerichte beschäftigt: Die sogenannte „Judensau“ wurde um 1300 angebracht und zeigt einen Rabbiner, der unter den Ringelschwanz des Tieres schaut und andere, die an dessen Zitzen saugen.
Schweine galten in der christlichen Kunst des Mittelalters als Teufel, im Judentum als unrein – das Relief in Wittenberg ist also eine doppelte Beleidigung, adressiert an alle Juden. Und nach wie vor sichtbar und teils ohne historische Einordnung an 40 evangelischen und katholischen Orten, wie zum Beispiel im Kölner oder Regensburger Dom.
Für Felix Klein, den Antisemitismusbeauftragten der deutschen Bundesregierung, ist das Wittenberger Relief eine der „niederträchtigsten Darstellungen“, wie er dem KURIER erklärte. „Sie gehört entfernt und ins Museum – mit einem erklärenden Text.“ Genau das fordert auch jener Mann, der die Kirchengemeinde klagte, weil er sich und das Judentum diffamiert sah.
Die Gerichte urteilten anders; seine Berufung wurde ebenfalls abgelehnt. Sie sei isoliert betrachtet eine Beleidigung, habe aber als Teil eines heutigen Mahnmals mit Erklärtafel keinen beleidigenden Charakter mehr, heißt es. Eine Revision vor dem Bundesgerichtshof ist aber möglich.
„Das Mindeste, was nun passieren muss, ist eine bessere und klare Hinweistafel vor dem Relief“, sagt Antisemitismusbeauftragter Klein. Der Informationstext, der auf einer Platte am Boden angebracht wurde, wäre zu „verklausuliert“. Er findet es schade, dass es überhaupt erst zu einem Prozess kommen musste. Er wünscht sich im Umgang mit den Darstellungen von der katholischen wie evangelischen Kirche proaktives Handeln. „Denn dieser tief liegende Antijudaismus war kulturprägend und hat zum Antisemitismus im 19. Jahrhundert beigetragen.“ Die „Judensäue“ sollten – an der Außenseite angebracht – symbolisch Juden wegweisen, im Inneren Kirchgänger moralisch ermahnen, indem man die Figuren sündhaft darstellte.
Umgang mit NS-Relikten
Wie damit umgehen? Diese Frage stellt sich nicht nur bei antisemitischen Darstellungen an historischen Bauten: Relikte aus der Zeit des Nationalsozialismus sind nach wie vor vorhanden – etwa der Flughafen Tempelhof, der das Drehkreuz von Hitlers geplanter „Welthauptstadt Germania“ werden sollte, oder das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. „Nicht jedes Relikt des zwölfjährigen nationalsozialistischen Regimes ist erhaltungswürdig“, schrieb der Historiker Wolfgang Benz im Tagesspiegel – vor allem, wenn es kein schlüssiges Nutzungskonzept gibt.
Felix Klein wünscht sich dazu mehr öffentliche Debatten. Es gäbe dazu auch gute Beispiele, sagt er. In München wurde das NS-Dokuzentrum am Königsplatz errichtet, wo NS-Funktionsbauten stehen. Man lernt dort über das Münchner Abkommen (darin wurde die Abtretung des Sudetengebiets an das Deutsche Reich festgelegt, Anm.) und schaut beim Blick aus dem Fenster auf jenes Gebäude, wo es 1938 unterzeichnet wurde – die heutige Musikhochschule. Allerdings bekrittelt er, dass dort der Hinweis fehlt, was drinnen geschah. Verbesserungsbedarf sieht er auch beim Flughafen Tempelhof, wo heute Modeschauen oder Theateraufführungen stattfinden. „Auf dem Gelände waren Zwangsarbeiter untergebracht, damit wird nicht genügend umgegangen.“
Schmähdarstellungen wie die sogenannte „Judensau“ sind vor allem im deutschsprachigen Raum verbreitet; Nachweise gibt es aber auch in Frankreich, Belgien, Polen, Schweden.
Beispiele in Österreich:
Am Salzburger Waagplatz wurde 1520 ein Relief angebracht, das ein Schwein zeigt, welches jüdische Kinder säugt. 1785 ließ man es entfernen. In Wiener Neustadt befand sich auf dem Haus Hauptplatz 16 ein ähnliches Spottobjekt, das in einer Ausstellung im Stadtmuseum gezeigt wurde.
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