"Das Volk gegen Macron": Frankreich droht ein Protest-Winter
von Simone Weiler
Nur ein paar wenige Menschen sind an diesem Oktoberwochenende mit ihren grellgelben Warnwesten über den Jacken zum Platz der Befreiung im Pariser Vorort Vitry-sur-Seine gekommen.
Dort stehen sie an einem Kreisverkehr und reichen ein Megafon herum. „Schließt euch uns an“, brüllt eine Frau hinein. „Gemeinsam kämpfen wir für unsere Renten, für unser Leben! Gegen die Kapitalisten, diese Heuchler! Kommt mit!“ Doch die Autos fahren einfach weiter.
Straßenblockaden und Gewalt
Als die Bewegung der Gelbwesten vor vier Jahren entstand, waren sie so viele, dass sie den Verkehr an Kreiseln wie diesem lahmlegen konnten. Hunderttausende Menschen demonstrierten ab Herbst 2018 monatelang jedes Wochenende in den Straßen, teils auch gewaltsam.
Bald nahm die Regierung die geplante Ökosteuer auf Kraftstoff zurück. Präsident Emmanuel Macron ließ im ganzen Land Bürger-Debatten organisieren, um den Menschen das Gefühl der politischen Mitbestimmung zu geben und die Wut-Bewegung zu besänftigen.
Nun fürchten manche Politiker deren Rückkehr, auch wenn den Gelbwesten eine Mobilisierung wie damals bisher nicht gelungen ist.
Marsch der Linken
Heute, Sonntag, organisiert die linksradikale Partei „La France Insoumise“ („Das widerspenstige Frankreich“) mit der Unterstützung der Grünen, Sozialisten und Kommunisten einen „Marsch gegen das teure Leben und die Untätigkeit gegen den Klimawandel“ in Paris.
Die Gewerkschaften schließen sich der Demonstration offiziell zwar nicht an, doch 700 Aktivisten haben in eigenem Namen zur Teilnahme aufgerufen. Und am nächsten Dienstag gibt es einen gewerkschaftlichen Streiktag.
"Zentrales Kräfteverhältnis"
Der Druck auf die Regierung wächst. LFI-Chef Jean-Luc Mélenchon kündigte den Sonntag als „Schlüsselmoment“ an, denn er werde „das zentrale Kräfteverhältnis der Gesellschaft aufzeigen: Macron gegen das Volk, das Volk gegen Macron“.
Die Forderungen reichen vom Einfrieren der Preise für Energie und Alltagsprodukte über die Einführung einer Übergewinnsteuer, das Herabsetzen des Renteneintrittsalters von 62 auf 60 Jahre bis zu Gehaltserhöhungen.
Gefühl des Misstrauens
Die Inflation fällt in Frankreich aufgrund eines seit April geltenden Tankrabatts und der seit Oktober 2021 eingeführten Energiepreis-Deckelung mit 5,6 Prozent zwar deutlich niedriger aus als in fast allen anderen Ländern der OECD.
Dieser Aspekt geht aber oft unter, sagt Laurence de Nervaux, Direktorin des Think Tanks „Destin Commun“, der eine international vergleichende Studie zum allgemeinen Vertrauensverlust durchgeführt hat.
„Die Gründe für die Inflationskrise werden in weiten Teilen der Bevölkerung nicht verstanden“, führt sie aus. Die Folge: ein weitverbreitetes Gefühl der Unsicherheit und des Misstrauens.
Treibstoffmangel
Zuletzt kam es auch noch zu Engpässen beim Benzin. Aufgrund von Streiks in sechs der sieben französischen Raffinerien und sieben großen Tanklagern mangelt es in rund einem Drittel, in manchen Regionen in bis zur Hälfte der Tankstellen seit Tagen an Treibstoff.
Teilweise gab es tumulthafte Szenen und in der Nähe vieler Zapfsäulen musste die Polizei den Verkehr regeln. Die Gewerkschaften fordern angesichts der großen Profite der Erdölkonzerne deutliche Gehaltserhöhungen, doch die Gespräche darüber stocken.
Schließlich ordnete Premierministerin Élisabeth Borne an, Personal zu Notdiensten zu verpflichten – trotz des Streikrechts hat der Staat die Möglichkeit dazu.
Er rufe alle Beteiligten zur Verantwortung auf, sagte Präsident Emmanuel Macron am Mittwochabend in einem Fernsehinterview: „Ich bin für Verhandlungen, nicht für Blockade.“
Er denke an seine Landsleute, die mitten in der Nacht in ihren Autos Schlange stehen müssten, um an Treibstoff zu kommen.
Rentenreform
Ein anderes Thema erhitzt derweil seit Wochen die Gemüter: die Rentenreform, die Macron bald umsetzen will. Vor drei Jahren scheiterte er mit seinem Versuch eines umfassendes Umbaus des Rentensystems, der heftigen Widerstand hervorrief – die Demonstrationen dagegen wurden zu einer Art Verlängerung der Gelbwesten-Proteste.
Kurz vor Abschluss der Reform legte Macron das Projekt aufgrund der Corona-Pandemie auf Eis.
Nun will er auf die Einführung eines Punktesystems verzichten, aber das Rentenalter auf 64 oder 65 Jahre anheben. Einer Umfrage zufolge lehnen dies 70 Prozent der Menschen in Frankreich ab. Macrons Lager argumentiert, es habe sich um eines seiner zentralen Wahlkampf-Versprechen gehandelt.
Im Zweifelsfall kann die Regierung die Reform auch ohne das Parlament, in dem sie nur noch eine relative Mehrheit hat, beschließen. Sollte die Opposition in der Folge für ein Misstrauensvotum stimmen, sei er bereit zu einer Auflösung der Nationalversammlung, ließ Macron wissen.
Es könnte ein Winter des Kräftemessens werden.
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