Das Habsburgerreich und die EU: Durchwurschteln als Überlebensprinzip

Ein goldenes Wappen mit Doppeladler und Krone, flankiert von Engelsfiguren.
Eine niederländische Journalistin hat mit unbefangenem Blick den Parallelen der beiden Systeme nachgespürt – es sind erstaunlich viele

So etwas kann einem nur in Wien passieren: Da geht Caroline de Gruyter, eine renommierte Journalistin aus den Niederlanden, in Hietzing zur Yoga-Stunde und erzählt einer Kursteilnehmerin, dass sie an einem Buch über die Gemeinsamkeiten zwischen dem Habsburgerreich und der EU schreibt.

Worauf die Yoga-Kollegin antwortet: „Dann müssen Sie mit jemandem reden, der das alles durchlebt hat. Ich ruf gleich meinen Onkel Albrecht an!“ Kurz darauf saß die Niederländerin Albrecht Hohenberg gegenüber – einem Enkel des 1914 erschossenen Thronfolgers Franz Ferdinand.

Es sind Begegnungen wie diese – seien sie mit Nachkommen altösterreichischer Adelshäuser, Beamten oder Diplomaten – die de Gruyters Buch so lebendig machen. Denn weniger um wissenschaftlichen Diskurs geht es ihr als um ein emotionales Nachspüren, wenn sie den Parallelen zwischen der untergegangenen Doppelmonarchie und der EU auf den Grund geht.

Mit der EU kennt sich Carline der Gruyter aus, lang hat sie aus Brüssel berichtet.

Die Europaflagge mit den gelben Sternen weht vor einem modernen Gebäude.

Doch vom Habsburgerreich „wusste ich nichts“, schreibt sie. Mit umso größerer Überraschung fand sie viele Ähnlichkeiten. Die größte: Das Prinzip – und dieses Wort musste die Niederländerin erst lernen – des „Durchwurschtelns“. „Das Einzige, was in einem Vielvölkerstaat oder einem komplexen Föderalsystem wie der EU funktioniert, ist sich durchzuwurschteln, kleine Schritte zu setzen. Vorsichtig zu manövrieren“, schildert Emil Brix, der Leiter der Diplomatischen Akademie in Wien, der Autorin.

Halbfertige Lösungen

Alle ihrer Gesprächspartner sehen es ebenso: Teils unbefriedigende Kompromisse müssten gesucht werden, um zu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen. Europa als „Soft Power müsse heute genauso wie einst das Habsburgerreich die vielfältigen Interessen ihrer „Völker“ austarieren.

Mit Blick auf das heute noch querulierende Ungarn schreibt de Gruyter: „Schon damals war es unmöglich, eine Politik zu betreiben, die alle gleichzeitig zufriedenstellen konnte.“ Lösungen fielen deshalb immer unausgegoren und halbfertig aus – ein Vorwurf, den sich Brüssel nur zu oft gefallen lassen muss.

Zerbrochen aber ist die Monarchie nicht am Durchwurschteln und auch nicht am aufgeflammten Nationalismus ihrer Völker, sondern am Krieg. Alles, was das Habsburger-Reich bis dahin zu bieten hatte, kippte weg: Ordnung, Bürokratie, Versorgungssicherheit.

Welche Lehren kann die EU daraus ziehen? „Ein supranationales Gefüge mit einer schwachen Armee, das mehrere Völker zusammenhalten will, muss ständig seinen Mehrwert unter Beweis stellen“, ist die Europa-Expertin überzeugt. Letztlich gehe es um genau das, was die Habsburger praktiziert hätten: „Verhandeln, Deals schließen, manchmal taub stellen, Konflikte vermeiden.“

Nur mit einem ihrer Gesprächspartner aus der heutigen, rund 600 Personen zählenden Habsburgfamilie kam Caroline der Gruyter auf keinen grünen Zweig: Karl Habsburg.Der Kaiserenkel sinnierte bei einem Vortrag über die Parallelen zwischen Habsburgerreich und Europa. Dass er dabei bei einem Text von de Gruyter großzügig Anleihe nahm, erwähnte er mit keinem Wort. Als sie ihn darauf ansprach, sagte er: „Ihr Artikel ist fantastisch. Gestern habe ich ihn auch verwendet.“

Das Buch „Das Habsburgerreich – Inspiration für Europa?“ mit einem Porträt von Kaiserin Elisabeth.

Caroline de Gruyter:
„Das Habsburgerreich - Inspiration für Europa?“
Böhlau, 216 Seiten. 26 Euro  

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