Gerade streitet auch die deutsche Bundesregierung wieder einmal über ein allgemein gültiges Tempolimit für die mehr als 13.000 Kilometer deutsche Autobahnen. Die SPD möchte die Geschwindigkeit begrenzen, CDU/CSU sind strikt dagegen. Nun gehört die Diskussion über das Tempolimit zu Deutschlands alle paar Jahre wiederkehrenden innenpolitischen Bräuchen. Doch diesmal ist etwas anders. Die Stimmung beginnt sich zu drehen.
Im Jänner lenkte der Automobilklub ADAC, mit 21 Millionen Mitgliedern ein politischer Faktor im Land, erstmals ein. Bisher trat Europas größter Autofahrerklub dem Tempolimit entgegen, nun schrieb er: „Der ADAC legt sich in der Frage aktuell nicht fest.“ 50 Prozent der Mitglieder seien gegen ein Limit, 45 Prozent dafür. In der Gesamtbevölkerung zeigen Umfragen schon eine Mehrheit für eine Beschränkung.
Debatte mit religiösem Eifer
Verkehrsstatistiken sagen über das Thema Tempolimit oft wenig aus. Der Vergleich mit anderen Ländern führt nicht weiter, denn es gibt neben der Geschwindigkeit viele Faktoren für Sicherheit im Verkehr. So ist das Tempolimit in Deutschland eine Glaubensfrage, über die mit fast religiösem Eifer gestritten wird. Viele deutsche Autofahrer betrachten es als ihr Recht, ihr Gaspedal nach eigenem Ermessen zu treten. „Es ist die letzte Freiheit, die wir Bürger noch haben“, diesen Satz hört man an der A9-Raststation nördlich der Audi-Stadt Ingolstadt häufig.
Trotz der legalen Raserei sind die deutschen Autobahnen nicht unsicher. Pro einer Milliarde Fahrkilometer sterben dort derzeit 1,7 Menschen – kein signifikanter Unterschied zu Belgien oder Frankreich, wo es ein Tempolimit gibt. In Österreich waren es im Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2018 rund 1,5 Menschen.
Die Frage bleibt, ob deutsche Autobahnen noch sicherer sein könnten. Der Vergleich mit anderen Ländern führt nicht weiter, aussagekräftiger sind Vorher-Nachher-Studien.
Beispiel Brandenburg: Ein 62 Kilometer langer Abschnitt der A24 hatte in dem deutschen Bundesland bis Dezember 2002 kein Tempolimit, dann wurde eine Begrenzung von 130 km/eingeführt. Fazit: Die Zahl der Unfälle halbierte sich von 654 Unfällen in drei Jahren ohne Tempolimit auf 337 Unfälle in drei Jahren mit 130 km/h. Weil allerdings auch der Verkehr dort zurückging, bewerteten die Studienautoren den Anteil des Tempolimits an den sinkenden Unfallzahlen mit insgesamt 26,5 Prozent.
Porsche-Fahrerin Pieper bleibt trotzdem dabei: Sie will schnell fahren dürfen. „Wenn es die Bedingungen hergeben, sollte man mir den Spaß lassen“, sagt sie. Die mehr als 300 PS unter ihrer Motorhaube spielen bei ihrer Meinung wohl auch eine Rolle.
Auf der deutschen Autobahn herrscht mindestens eine Drei-Klassen-Gesellschaft, man könnte auch sagen Blech-Darwinismus. Rechts tuckern schwere Lkw, in der Mittelspur fahren kleine und mittlere Pkw. In der linken Spur herrschen aber die Sportautos der bayerischen oder Stuttgarter Hersteller. Sie verweisen die Kleineren gerne auch mal per Lichthupe zurück an ihren Platz.
Rasende Republik
In Deutschland kursieren unter Tempo-Fürsprechern einige Mythen. Einer davon: Nur durch Fahren mit hoher Geschwindigkeit lassen sich im weiten Deutschland Termine einhalten, das halte die Wirtschaft am Laufen. Fakt ist: Selbst auf stundenlangen Fahrten mit Top-Speed gewinnt man nur ein paar Minuten. Noch so ein Mythos: Die hohe Geschwindigkeit würde die Konzentration steigern. Tatsache ist: Wer 120 km/ h fährt, hat 144 Meter Bremsweg. Wer aber mit 240 km/h über den Asphalt brettert, braucht den vierfahren Bremsweg. Da hilft selbst höchste Konzentration nicht mehr.
Auch dem Argument der „Eigenverantwortung“ und „Freiheit“ der Bürger können Experten wenig abgewinnen. „Die Möglichkeiten des Autofahrers, viel frei zu entscheiden, sind ohnehin schon drastisch zurückgefahren. In der Stadt haben Sie Tempo 50 oder Tempo 30. Es gibt also im Verkehr allgemein zahlreiche Regeln“, sagt der Kölner Sozialforscher und Verkehrsexperte Dieter Ellinghaus.
Der heute 77-Jährige beobachtet die Deutschen und ihr Verkehrsverhalten seit vielen Jahrzehnten. Dass Europas Hochgeschwindigkeits-Refugium unter Druck steht, liegt für Ellinghaus auf der Hand. „Die Debatte hat sich verschoben, so wie sich die politische Landschaft verändert hat. Die Grünen stellen in Umfragen teilweise die stärkste Fraktion. Daher gibt es auch Tendenzen zu restriktiveren Regeln im Autoverkehr.“
Lange schien das unvorstellbar: Die Zahl der Fahranfänger in Deutschland geht zurück – im Jänner 2019 gab es mit 1,64 Millionen Probeführerscheinen ein 10-Jahres-Tief –, und das Auto verliert bei vielen Jungen den Nimbus des Statussymbols.
Gleichzeitig ist anderen Teilen der Bevölkerung ihr Automobil weiterhin lieb und teuer. Die deutsche Liebesbeziehung zum Tempo kann man nur im Rückwärtsgang der Geschichte verstehen. Deutschland, das ist die Heimat der Industriepioniere Carl Benz und Rudolf Diesel. In den 1950er Jahren ermöglichte die Autoindustrie das deutsche Wirtschaftswunder, dieses wiederum die neue deutsche Reiselust. Auf der Autobahn ging es in eine freie und demokratische Zukunft. Damals schnurrten die deutsche Wirtschafts- und Motorkraft noch im Gleichklang. Noch 1974 plakatierte der ADAC den Spruch „Freie Fahrt für freie Bürger“.
Bevor Frau Pieper in ihren Porsche Cayenne steigt, sagt sie angesprochen auf die Tempolimits der anderen EU-Staaten noch: „Langsames Fahren wirkt einschläfernd. Sie hören nur das monotone Geräusch der Reifen, da wird man so eingeduselt.“
Experte Ellinghaus, ein paar hundert Kilometer weiter nördlich in Köln, glaubt das nicht: „Es ist ja auch nicht so, dass in Ländern, wo ein Tempolimit existiert, die Autofahrer bei Tempo 120 oder 130 auf der Autobahn einschlafen. Auch die Holländer werden das bei 100 km/h nicht tun.“
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