Corona-Hotspot Frankreich: Über 80-Jährige kommen nicht mehr in die Reanimation
„Präsident Macron hat gesagt, wir sind im Krieg. Aber wir werden ohne Waffen an die Front geschickt“, konstatiert ein französischer Krankenpfleger, der in einer Notaufnahme eines Pariser Spitals arbeitet: „Je länger die Krise dauert, desto nachlässiger wird bei uns die Einhaltung der Sicherheitsregeln. Schutzkleidung und Handschuhe sind nicht mehr vorgeschrieben, die virus-stoppenden Gesichtsmasken werden nur mehr bei wenigen Untersuchungen angelegt.“
Wie dieser Krankenpfleger dem Figaro, machten mehrere Krankenhausangestellte in den vergangenen Tagen in den Medien ihrem Ärger Luft.
Kapazitätsende
Die Situation ist auch sonst auf der Kippe. „Wir sind ans Ende unserer Aufnahmekapazitäten angelangt“, warnt Aurelien Rousseau, Leiter der Gesundheitsbehörden des Pariser Großraums. In den Spitälern mangelt es vor allem an Intensivbetten mit Beatmungsgeräten, obwohl deren Zahl binnen kürzester Zeit verdoppelt wurde.
Die Not macht aber erfinderisch. Anders genützte Spitalsräume wurden blitzschnell in Bettenstationen umfunktioniert, Beatmungsgeräte aus Tierkliniken herbeigeschafft, alte Gesichtsmasken in Ämtern aufgestöbert.
Wo nichts mehr geht, werden die Patienten per Bus, Bahn und Militärflugzeug in weniger verseuchte Regionen verfrachtet.
Auch die nötigen Betäubungsmittel, wie Curare oder Morphin, werden immer knapper. Vor allem aber geht den Intensivstationen das qualifizierte Personal aus. Wobei auch angesteckte Ärzte und Krankenpfleger in Intensivstationen zum Einsatz kommen.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass Patienten, die über 80 Jahre alt sind oder bereits zuvor wegen chronischer Erkrankungen erhöhte Sterblichkeitsrisken aufwiesen, kaum mehr in Intensivstationen gelangen: „Eine dreiwöchige Intensivbehandlung käme einem verbotenen therapeutischen Über-Beharren gleich. Wir müssen Prioritäten setzen“, sagte ein Spitalsarzt gegenüber dem Blatt Le Parisien.
Bis vor dem Ausbruch der jetzigen Krise bot der französische Wohlfahrtsstaat seinen Bürgern, aber auch eingereisten Ausländern, darunter etlichen Briten und Skandinaviern, einen der weltweit großzügigsten Zugänge zur Gesundheitsversorgung. Gleichzeitig aber wurde seit Jahrzehnten das öffentliche Spitalswesen krank gespart.
Neun Masken pro Woche
Der einstige staatliche Lagerbestand von Milliarden von Schutzmasken wurde radikal heruntergefahren. Deshalb müssen jetzt die Pflegekräfte in der Altenversorgung laut Verordnung mit neun Gesichtsmasken pro Woche auskommen. Die meisten Polizisten, die für die Einhaltung der Quarantäne sorgen, rücken für Nah-Kontrollen ohne Masken aus.
Vielleicht hätte Frankreich Zeit gewinnen können, wenn nicht in der Region „Grand Est“ (Großer Osten) schon Mitte Februar ein phänomenaler Infektionsherd entstanden wäre, der zu spät wahrgenommen wurde. In der Stadt Mülhausen im Elsass waren mehr als 2.000 Anhänger einer evangelikalen Kirche aus ganz Frankreich für eine Gebetswoche zusammengeströmt.
Diese neo-protestantischen Gemeinschaften sind in den ärmeren Vierteln stark vertreten. Ihre Gottesdienste sind enthusiastische Gemeinschaftserlebnisse mit Gesang und Tanz, sie halten einander an den Händen.
Zwei Wochen nach dem Treffen wurde das Krankenhaus von Mühlhausen von einer Flut von schweren Corona-Fällen überrascht. Erst ab da wurde der Zusammenhang mit dem evangelikalen Mega-Event erkannt. Die Kirche trifft keine Schuld, damals war noch nirgends in Frankreich von „sozialer Distanzierung“ die Rede.
Hingegen kann von einer gewissen „Schuld“ aller politischen Kräfte gesprochen werden – hatte doch Staatspräsident Emmanuel Macron unter dem Druck der siegessicheren Oppositionsparteien landesweite Kommunalwahlen noch am 15. März aufrechterhalten. Resultat: eine überdurchschnittliche Sterblichkeitsrate unter Wahl-Beisitzern.
Höhepunkt kommt erst
Während im Elsass inzwischen ein leichter Rückgang der Aufnahmen in den Intensivstationen registriert wird, ist die Großregion Paris zum gefährlichsten Brennpunkt geworden. Mit mehr als 4.000 Todesfällen allein in den Spitälern innerhalb eines Monats ist Frankreich das Land Europas mit der dritthöchsten Opferzahl nach Spanien und Italien. Dabei steht – laut Vorwarnung der Behörden – der Seuchen-Höhepunkt noch bevor.
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